Während ich die Thesen meiner Bachelorarbeit weiter ausarbeitete und die bisherigen Interviews anschaute, ist mir aufgefallen, dass alle meine Gesprächspartner männlich sind. Ich machte mir Gedanken, welche Personen sich ebenfalls mit Schriftgestaltung befassen. Da wir in einer modernen Welt leben, suchte ich auch über Social Media und stieß auf Charlotte Rohde. Dieser folgte ich schon länger auf Instagram und Behance. Damals faszinierte mich ihre experimentelle, feministische Herangehensweise bei der Gestaltung ihrer Schriften.
Ich überlegte nicht lange und schrieb sie auf Instagram an, ob sie Interesse an einem Interview hätte. Nach einem kurzen Chatverlauf bestätigte sie mir einen Termin und ich buchte einen IC nach Amsterdam. Zur Vorbereitung auf das Interview recherchierte ich in meinen Büchern zu Hause, um besser Fragen zu finden. Als Buch nahm ich das „Why Fonts Matter“ von Sarah Hyndmann vom Virgin Books Verlag mit, um auf verschiedene Inhalte von diesem einzugehen.
Am Freitag, den 08.11.2019, nahm ich um 06:40 Uhr den IC nach Amsterdam centraal. Hier verschaffte ich mir, als ich um 11:00 Uhr angekommen bin, erstmal einen Überblick, um die richtige Stadtbahn zu nehmen. Im Sandberg Institut in Amsterdam trafen wir uns. Hier schloss ich mich einer Gruppe Studenten an, denen Charlotte Rohde einen Vortrag hielt und diesen mit einer interessanten Fragerunde beendete. Anschließend suchten wir uns im offenem Aufenthaltsraum ein ruhiges Plätzchen, wo ich mein Audioequipment aufbaute ...
SM
Ich spreche heute mit einer jungen, feministischen Schriftgestalterin im „Sandberg Instituut“ in Amsterdam. Durch ihre experimentellen Schriften ist sie in der Schriftszene bekannt geworden. Zu-
letzt entwarf sie die „Serifbabe“ und forscht gerade.
Hallo Charlotte Rohde. Schön, dass du hier bist.
CR
Hey, na… Schön, dass du da bist.
SM
Woran hast du als Letztes geforscht, wenn ich fragen kann?
CR
Geforscht?
SM
Oder gearbeitet?
CR
Gearbeitet? Tatsächlich an meiner pädagogischen Haltung zu Workshops. Wie ich Workshops gebe, wie ich Wissen vermitteln möchte und wie ich gerne hätte, dass mir Wissen vermittelt wird. Aber ich habe mehr darüber nachgedacht als geforscht.
SM
In Buchform oder in Seminaren?
CR
Learning by doing. Ich bin zwar derzeit dabei, einen semi-akademischen Text zu schreiben, aber in meinen gestalterischen Arbeiten bin ich tatsächlich prozessorientiert. Ich mache etwas und währenddessen merke ich, was ich da eigentlich mache. Für mich sind meine Gedanken immer eine große schwammige Wolke. Und je weiter ich versuche reinzuzoomen, desto schwammiger wird es. Aber wenn ich einfach anfange zu machen, manifestieren sich die Gedanken in meiner Arbeit und dann kann ich sie ausformulieren.
SM
Genau so einen ähnlichen Ansatz habe ich auch. Ich mache momentan jeden Mittwoch im Buchdruck Museum in Hannover abstrakte Holzbuchstabenbilder, die ich zufällig hinlege, und dann einfach in einem monotonen Prozess drucke. Dabei habe ich festgestellt, dass ich währenddessen sehr gut über die Arbeit nachdenken kann. Ich habe dir ein paar Sätze mitgebracht, die du gerne ergänzen kannst. Und zwar: Typografie war früher…
CR
Früher im Sinne von vor mir? Oder im Sinne von für mich in meiner Praxis?
SM
Für dich in deiner Praxis.
CR
Typografie war früher unfassbar schwierig für mich. Und ist mittlerweile ein immer weicheres Werkzeug in meinen Händen.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals…
CR
… Geld auf dem Konto. Sorry. (lacht)
SM
Ja, so ist es. Welches Buch hat dich zuletzt begeistert?
CR
Ich habe letztens einen Talk im „LetterSpace“ in Amsterdam gegeben. Hinterher haben sie mir dann ein Buch überreicht, das sie nur für mich gemacht haben. Es ist eine Hausarbeit über Hildegard von Bingen, die ja auch sehr für ihre mystischen und magischen Gedanken bekannt war. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass sie 1100 als erste weibliche Universalgelehrtin gelebt hat. Sie haben das Buch in meinen Schriften gesetzt, nur für mich gedruckt und das Coverpapier mit Marmorierungseffekten für mich eingefärbt und das war das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.
SM
Das klingt super. Was bedeutet Schrift für dich?
CR
Schrift bedeutet, dass ich mit Inhalt und Form gleichzeitig arbeiten kann.
SM
Super. Mit Schrifttypen kann man ja verschiedene Charaktere erschaffen. Und mit diesen Charakteren kann ich wiederrum dem Inhalt eines Textes auch eine Form und ein gewisses Gefühl geben. Wie siehst du das?
CR
Ja, gut (lacht).
SM
Dann habe ich dir meine These aus meinem „typografischen Manifest“ mitgebracht: »Schrift ist Emotion.«
CR
Ja, ich sehe Schrift vor allem als visuelle Stimme. Zum Beispiel gibt es das schöne deutsche Sprichwort: „Der Ton macht die Musik.“ Und Schrift macht den Ton von schriftlicher Sprache. Das anzufassen ist sehr, sehr interessant und damit zu experimentieren. Natürlich kannst du nicht schreiben ohne Worte zu benutzen, außer beispielsweise bei „Écriture automatique“, aber das geht mir tatsächlich schon wieder zu weit weg. Deshalb habe ich angefangen, mit Gedichten zu arbeiten, um mit Worten so zu arbeiten wie ich mit Gestaltung arbeite, wobei es viel mehr um ein Gefühl geht und gar nicht so sehr um Ratio. Ratio ist für mich ein sehr patriarchales Konzept der Aufklärung und darüber sollten wir langsam mal hinwegkommen.
SM
Ja, das stimmt auf jeden Fall. Sollte Schrift idealerweise den Inhalt der Sprache verkörpern?
CR
Kommt darauf an, was man machen will. Vielleicht auch das genaue Gegenteil. Ich finde nicht, dass Form der Function „followern“ muss.
SM
Ich finde das ganz interessant. Aktuell habe ich mir im Sprengel-Museum bei uns in Hannover die Kurt Schwitters-Ausstellung angeguckt und er war ja der Erste …
CR
Wer ist das noch mal?
SM
Das war ein hannoverscher Typograf und Künstler, der ganz experimentell mit Schrift im Bleisatz umgegangen ist und die Worte auch so gesetzt hat, wie sie ausgesprochen werden.
CR
Aah, jaja, aha.
SM
Also, für mich ist das auf jeden Fall sehr interessant, weil es komplett aus dem Raster, welches man damals hatte und das wir im Digitalen auch noch haben oder haben sollten, dass man da komplett ausbricht.
CR
Ja, Tod dem Raster. Ich liebe Raster … Ich kann reden und tippen gleichzeitig. Ich google nur mal kurz, ich guck mir das nur kurz an.
SM
Ja, super. Ich warte kurz. Er ist ganz experimentell mit den Flächen umgegangen, gerade hier bei dem einen comic-artigen … Es geht schon Richtung Dadaismus, obwohl die ihn nicht haben wollten – das ist ein anderes Thema.
CR
Ja, oh Gott, ja, da geht’s dann wieder um Inklusion, Exklusion und welchen Namen man sich gibt.
SM
Wie siehst du Schriftzüge in Sprechblasen in Comics.
CR
Gar nicht, weil ich mir eigentlich keine Comics angucke.
SM
Ich war auf der Suche nach Beispielen, in denen Schrift pure Emotion ist und gerade in Comics wird Schrift in Sprechblasen häufig sehr bunt oder klein dargestellt.
CR
Dazu habe ich keine Gefühle.
SM
Okay. Ich habe dir ein Zitat von Eugen Nerdinger
mitgebracht: „Schrift ist konservierte Sprache
durch den Charakter, welchen der Schriftgestalter
durch die Werkzeuge in seiner Kultur mitgibt, ent-
steht beim Leser ein Gefühl.“
Was denkst du darüber?
CR
Ich denke darüber, dass man seine Sprache mal „gendern“ sollte, weil es mittlerweile auch etliche Schriftgestalterinnen gibt. Ja, kann ich das nochmal lesen? Ich bin so schlecht im Zuhören.
SM
Ja.
CR
Im Design arbeitet man immer mit Klischees. Man hat halt immer diese Referenzen, die Klischees sind. Zum Beispiel wenn ich über die Marguerite sage, dass sie weibliche Formen hat, dann hat das natürlich nur mit der Konnotation von „weiblich“ über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg zu tun. Und das ist natürlich eigentlich etwas, wogegen man kämpfen sollte, aber wenn wir diese Referenzen nicht hätten, dann hätten wir wahrscheinlich auch dieses Gefühl nicht. Jetzt kann man sich fragen, ob diese Gefühlsassoziationen etwas Kultiviertes oder etwas Natürliches sind. Das ist nochmal eine ganz andere Research Question.
SM
Ja. Ich habe vor zwei Jahren in Eindhoven als Abschlussarbeit eine Installation gesehen, bei der zwei Personen in Kästen waren und man über Face Tracking die Typografie von Nachrichten auf dem Bildschirm verändern konnte. Ein ähnliches Projekt habe ich jetzt noch mal gefunden. Es heißt Elefant Grotesk. Ich weiß nicht, ob du das kennst und …
CR
Ne. Wie funktioniert das?
SM
Du hast eine Kamera, zum Beispiel von deinem MacBook und kannst hier über Face Tracking Grimassen schneiden, also „happy“ oder „traurig“ gucken, „verwirrt“ und so weiter. Du kannst auch etwas in diesen Bereich schreiben und dann wird die Schrift angepasst.
CR
Aha, also grundsätzlich finde ich den Ansatz natürlich spannend und interessant. Das Problem, das ich daran sehe, ist, dass es so datenbasiert ist und Face Tracking benutzt. Solchen Sachen stehe ich eher kritisch gegenüber, einfach weil man nicht weiß, wohin die Daten gehen. Was bedeutet es, wenn unsere Gesichter so „normisiert“ werden? Wo ist da dieser Rahmen für das menschliche Versagen? Es ist ein interessantes Konzept, aber sobald man diese Prozesse automatisiert, verschwindet auch wieder das Menschengemachte, daher ist es irgendwie ein Widerspruch in sich selbst.
SM
Auch diese Fehler passieren durch Zufälle im Kreativprozess.
CR
Ich will mich einfach nicht facetracken lassen.
SM
Ich habe dir mein Lieblingsbuch „Über Schrift und Druck“ von Dr. Karl Klingspor mitgebracht, das behandelt, wie Schrift auf uns wirken kann.
CR
Von wann ist das?
SM
Das ist von 1948.
CR
Aha. Bist du ein bisschen nostalgisch?
SM
Ja, aber nur so ein bisschen, weil ich es aktuell interessant finde, wo Schriftentwicklung herkommt und mich damit ganz viel beschäftige. Wie wirkt Handschrift auf dich im Gegensatz zu Bleilettern oder dann digitalen Schriften?
CR
Es ist eine wesentlich persönlichere und menschlichere und weniger einheitliche Schrift. Aber ich befasse mich zum Beispiel nicht mit Handschrift, weil es ein anderes Medium ist. Ich habe keinen Hintergrund in Kaligrafie und es interessiert mich auch nicht so sehr. Es geht mir tatsächlich um diese Zeichen. Obwohl ich bei diesem oberen Beispiel finde, dass die Handschrift fast brutaler aussieht als die gesetzte Schrift, hat es stark damit zu tun wer schreibt und wie viel Zeit man dafür hat. Oder wie verzweifelt man ist, wenn man Gott anruft? Ja.
SM
Okay. Dann habe ich mir Gedanken gemacht, wo man emotionale Schrift findet und habe mich mit Liebesbriefen von Dichtern beschäftigt. Denkst du, dass das auch digital funktionieren kann?
CR
Ich habe auch schon Liebesbriefe in meinen eigenen Schriften gesetzt.
SM
Okay.
CR
Ja, aber da ich die dann selber gemacht habe – klar. Wuo… Wenn mir jemand einen Liebesbrief in Helvetica schicken würde – das wäre keine erfolgreiche Beziehung. Hast du auch ein Zitat von einer Frau mitgebracht?
SM
Leider nicht.
CR
Schade.
SM
Hast du eins für mich?
CR
Ne. Ich selbst habe tatsächlich gar keine Designtheorie gelesen, sondern viel Feministische Theorie oder Antikapitalistische Theorie. Das Zitat von Audre Lorde aus ihrem Essay „Uses of the Erotic“ vorhin gibt meine Haltung zu Gestaltung ganz gut wieder. Da geht es um „deeper knowledge“ und Intuition, die man sich zu eigen machen kann. Und das ist genau das, was das Patriarchat oder die Aufklärung verboten hat, gerade die weiblichen, nächtlichen Qualitäten. Weil uns halt eine gewisse Sensibilität zugeschrieben wird, mehr oder minder.
SM
Hast du das Zitat noch?
CR
Ja, ich müsste es mittlerweile auswendig können:
»Beyond the superficial, the considered phrase, ‘It feels right to me’ acknowledges the strength of the erotic into a true knowledge, for what that means is the first and most powerful guiding light towards any understanding.«
– Audre Lorde von 1982.
SM
Sehr gut. Ich habe dir noch die Kernaussage des „typografischen Manifestes“, an dem ich sitze, mitgebracht:
„Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung
an alle, die zweidimensionale Monitorfläche zu
verlassen, um Schrift wieder handwerklich oder
haptisch mit den Händen im Raum zu erfahren.“
Was denkst du darüber?
CR
Ich finde nicht, dass man alle Leute auffordern sollte, das zu tun. Ich finde, man sollte das mal haptisch erfahren haben, bevor man anfängt digitale Schrift zu machen, weil man dann versteht, wie Schrift funktioniert. Aber ich finde, dass der digitale Rahmen auch sehr viele spannende Möglichkeiten für Schriftgestaltung bietet. Beispielsweise eine „Variable Typeface“ kann man mit Webdesign sehr cool kombinieren. Mein Ding ist es nicht unbedingt, aber es bekommt dadurch halt eine ganz andere Dimension und vielleicht auch eine andere Form von Dreidimensionalität. Man kann durchaus ein Manifest darüber schreiben und in der Form ist es vielleicht auch in Ordnung, andere Leute so drastisch zu etwas aufzufordern.
SM
Henning Skibbe, ein Schriftgestalter aus Hamburg, hat gestern gesagt, dass er anderer Meinung ist als ich und ich im Bezug auf das Haptische stark von Holzbuchstaben ausgehe. Er hat auch gesagt, dass er es wichtig findet, dass Schriftgestalter mal eine Feder oder ein Handwerkszeug in der Hand hatten.
CR
Ja, ich finde es grundsätzlich auch wichtig zu verstehen, warum Schrift im digitalen Raum so aussieht, wie sie aussieht. Aber das hat natürlich auch ganz viel mit gelernten Dingen zu tun. Also, wenn du eine Serifenschrift digital anguckst, stellt sich die Frage, warum beim »w« der rechte Strich dünn und der linke dick ist. Das hat natürlich mit der Feder zu tun, aber stell’ dir mal vor wir hätten das nicht gehabt. Die Frage ist dabei natürlich, wie es vielleicht in 100 Jahren aussehen könnte, wenn die Welt eh wegen dem Klimawandel zerstört ist. Es geht darum zu verstehen, warum es gerade so aussieht wie es ist und, dass man es dann vielleicht auch brechen kann. Wir hatten jetzt vor 2, 3 Jahren diesen Trend mit den „Reverse Contrast“-Schriften, die man im digitalen Raum umsetzen kann. Also erst die Regeln lernen und dann brechen.
SM
Ich habe mich gefragt, ob man Emotionsmuster von Schriften lernen kann, gerade wenn man Schrift nicht lesen kann. Wie siehst du das? Also, wenn ich im öffentlichen Raum Schrift nicht als Informationsträger wahrnehme, sondern nur als Schrift wie sie ist. Die Frage ist also, ob wir das erlernen müssen oder ob wir dafür auch ein Bauchgefühl haben?
CR
Naja, das ist ja im Endeffekt visuelle Erziehung. Es beruht immer auf den Erfahrungen, die wir gemacht haben und ich denke schon, dass man das lernen kann. Wir hatten hier Matteo Broillet im Department, der in seiner Abschlussarbeit vor zwei Jahren darüber geschrieben hat, dass die spanische Polizei auf ihren Schusswesten eine Science Fiction-Schrift benutzt. Wir arbeiten ganz viel mit Konnotationen und mit gelernten Mustern. Und ich glaube total, dass es möglich ist, Dinge neu zu besetzen. Wenn wir jetzt zum Beispiel an Fraktur denken, die lange sehr geprägt wahrgenommen wurde. Die allererste Schrift, die ich gemacht habe, war „Helvetica Textbook Broken“ mit Frakturelementen für mein eigenes Corporate Design und dann haben Peter Zizka und Andreas Uebele darüber gestritten, ob man denn im Jahre 2014 eine „Identity“ aus Frakturschrift für sich selbst als Gestalterin machen könne. Das ist noch immer eine allgemeine Diskussion, wobei ich glaube, dass man es 2019 nicht mehr so debattieren würde, denn man kann diese Sachen immer neu besetzen. Aber es hängt natürlich auch damit zusammen, wer gewisse Ästhetiken für sich vereinnahmt. Zum Beispiel bedient sich Kanye West auf seiner Sunday Webseite dieser alten Meme Ästhetik, was ein super lustiges Beispiel ist. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass Kanye West sich jetzt selbst zu einem Meme macht – hat er nämlich schon längst – aber, wenn du dich jetzt so anguckst, ist es von vorne bis hinten hoffentlich ein ziemlich guter Witz.
SM
Ja, gut. Ich habe mich gerade in Hinsicht auf die Holzbuchstaben gefragt, ob das nicht alles Nostalgie ist und ob wir mit Hilfe der Digitalisierung eigentlich viel, viel bessere Werkzeuge haben, um Schrift zu gestalten.
CR
Naja, das kommt darauf an, wie du die Kategorie »Gut« und »Schlecht« einteilst.
SM
Also, einfacher.
CR
Ja, auf jeden Fall.
SM
… nicht mehr so kostenaufwändig im Gegensatz zu früher mit Bleisatz.
CR
Auch.
SM
Und, dass es die Möglichkeit gibt viel experimenteller mit Schrift umzugehen.
CR
Auch. Das heißt aber nicht, dass das andere schlechter ist.
SM
Ja, das stimmt.
CR
Also, ich versuche mich möglichst von den Kategorien »Gut« und »Schlecht« zu verabschieden, weil die so wertend sind und das hat so viel mit Angst zu tun. Wenn man sagt, dass gewisse Dinge schlecht sind und sich den Sachen verschließt und nicht versucht sie zu verstehen. Aber ich finde, dass jedes Werkzeug seine eigenen Stärken hat. Es benutzt ja niemand mehr Disketten, aber gerade gehen viele Leute wieder zurück zu Vinyl oder analoge Fotografie ist mit diesen Einwegkameras wieder da. Das analoge Arbeiten hat immer eine gewisse Qualität, die man digital nicht erzeugen kann und deshalb würde ich da nicht in gut oder schlecht, sondern dies nur in andere Prioritäten unterteilen.
SM
Und was ist interessanter als Gestalter? Ist es wichtig, verschiedene Werkzeuge oder Tools kennenzulernen und dann auszuwählen, wofür man sich jeweils entscheidet?
CR
Klar.
SM
… also wirklich Herumexperimentieren.
CR
Experimentieren ist immer gut.
SM
Wie stark experimentierst du in deinem Kreativprozess? Und sind dir dabei manuelle Werkzeuge nützlich? Du machst jetzt viel Keramiken, da hast du ja Ton vor dir und knetest den händisch.
CR
Ja, ja. Ich hatte voll die Offenbarung, als ich jetzt in Offenbach war, wurde ich gefragt, wieso ich jetzt eigentlich mit Keramik arbeite. Darüber hatte ich vorher noch nie so genau nachgedacht. Da ich 100%ige digitale Schriftgestalterin bin und tatsächlich fast nie vorher von Hand skizziere, sondern einfach mit „Glyphs“ anfange, ist für mich das Keramik machen das genaue Gegenteil. Denn es ist dreidimensional, es ist haptisch, es ist null digital, während meine Schriften zweidimensional, digital und schlecht anzufassen sind, weil man sonst Fingerabdrücke auf dem Bildschirm bekommt und das mag ich gar nicht.
SM
Wie wichtig ist dir bei so einem Prozess auch einfach Nonsense zu produzieren?
CR
Gut. Ja, am besten werden immer die Arbeiten, bei denen man sich denkt, dass es lustig wäre, wenn … und dann macht man richtig lustige Sachen. Zum Beispiel habe ich da drüben Kettenanhänger aus Keramik gemacht, die leider alle gebrochen sind. Aber es sind Ketten, bei denen ich aus Ton Würste gemacht habe und mit diesen in einer Schreibschrift Worte wie Babe und Gucci geschrieben habe und das finde ich extremst lustig.
SM
Super, dann komme ich auch schon zum Ende. Ich bedanke mich bei dir auf jeden Fall sehr für das Interview.
CR
Ja, du, schön das du da warst. Dankeschön.
Lesezeit: 00:34:12
Charlotte Rhode, p98a in Berlin
Während ich die Thesen meiner Bachelorarbeit weiter ausarbeitete und die bisherigen Interviews anschaute, ist mir aufgefallen, dass alle meine Gesprächspartner männlich sind. Ich machte mir Gedanken, welche Personen sich ebenfalls mit Schriftgestaltung befassen. Da wir in einer modernen Welt leben, suchte ich auch über Social Media und stieß auf Charlotte Rohde. Dieser folgte ich schon länger auf Instagram und Behance. Damals faszinierte mich ihre experimentelle, feministische Herangehensweise bei der Gestaltung ihrer Schriften.
Ich überlegte nicht lange und schrieb sie auf Instagram an, ob sie Interesse an einem Interview hätte. Nach einem kurzen Chatverlauf bestätigte sie mir einen Termin und ich buchte einen IC nach Amsterdam. Zur Vorbereitung auf das Interview recherchierte ich in meinen Büchern zu Hause, um besser Fragen zu finden. Als Buch nahm ich das „Why Fonts Matter“ von Sarah Hyndmann vom Virgin Books Verlag mit, um auf verschiedene Inhalte von diesem einzugehen.
Am Freitag, den 08.11.2019, nahm ich um 06:40 Uhr den IC nach Amsterdam centraal. Hier verschaffte ich mir, als ich um 11:00 Uhr angekommen bin, erstmal einen Überblick, um die richtige Stadtbahn zu nehmen. Im Sandberg Institut in Amsterdam trafen wir uns. Hier schloss ich mich einer Gruppe Studenten an, denen Charlotte Rohde einen Vortrag hielt und diesen mit einer interessanten Fragerunde beendete. Anschließend suchten wir uns im offenem Aufenthaltsraum ein ruhiges Plätzchen, wo ich mein Audioequipment aufbaute ...
SM
Ich spreche heute mit einer jungen, feministischen Schriftgestalterin im „Sandberg Instituut“ in Amsterdam. Durch ihre experimentellen Schriften ist sie in der Schriftszene bekannt geworden. Zu-
letzt entwarf sie die „Serifbabe“ und forscht gerade.
Hallo Charlotte Rohde. Schön, dass du hier bist.
CR
Hey, na… Schön, dass du da bist.
SM
Woran hast du als Letztes geforscht, wenn ich fragen kann?
CR
Geforscht?
SM
Oder gearbeitet?
CR
Gearbeitet? Tatsächlich an meiner pädagogischen Haltung zu Workshops. Wie ich Workshops gebe, wie ich Wissen vermitteln möchte und wie ich gerne hätte, dass mir Wissen vermittelt wird. Aber ich habe mehr darüber nachgedacht als geforscht.
SM
In Buchform oder in Seminaren?
CR
Learning by doing. Ich bin zwar derzeit dabei, einen semi-akademischen Text zu schreiben, aber in meinen gestalterischen Arbeiten bin ich tatsächlich prozessorientiert. Ich mache etwas und währenddessen merke ich, was ich da eigentlich mache. Für mich sind meine Gedanken immer eine große schwammige Wolke. Und je weiter ich versuche reinzuzoomen, desto schwammiger wird es. Aber wenn ich einfach anfange zu machen, manifestieren sich die Gedanken in meiner Arbeit und dann kann ich sie ausformulieren.
SM
Genau so einen ähnlichen Ansatz habe ich auch. Ich mache momentan jeden Mittwoch im Buchdruck Museum in Hannover abstrakte Holzbuchstabenbilder, die ich zufällig hinlege, und dann einfach in einem monotonen Prozess drucke. Dabei habe ich festgestellt, dass ich währenddessen sehr gut über die Arbeit nachdenken kann. Ich habe dir ein paar Sätze mitgebracht, die du gerne ergänzen kannst. Und zwar: Typografie war früher…
CR
Früher im Sinne von vor mir? Oder im Sinne von für mich in meiner Praxis?
SM
Für dich in deiner Praxis.
CR
Typografie war früher unfassbar schwierig für mich. Und ist mittlerweile ein immer weicheres Werkzeug in meinen Händen.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals…
CR
… Geld auf dem Konto. Sorry. (lacht)
SM
Ja, so ist es. Welches Buch hat dich zuletzt begeistert?
CR
Ich habe letztens einen Talk im „LetterSpace“ in Amsterdam gegeben. Hinterher haben sie mir dann ein Buch überreicht, das sie nur für mich gemacht haben. Es ist eine Hausarbeit über Hildegard von Bingen, die ja auch sehr für ihre mystischen und magischen Gedanken bekannt war. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass sie 1100 als erste weibliche Universalgelehrtin gelebt hat. Sie haben das Buch in meinen Schriften gesetzt, nur für mich gedruckt und das Coverpapier mit Marmorierungseffekten für mich eingefärbt und das war das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.
SM
Das klingt super. Was bedeutet Schrift für dich?
CR
Schrift bedeutet, dass ich mit Inhalt und Form gleichzeitig arbeiten kann.
SM
Super. Mit Schrifttypen kann man ja verschiedene Charaktere erschaffen. Und mit diesen Charakteren kann ich wiederrum dem Inhalt eines Textes auch eine Form und ein gewisses Gefühl geben. Wie siehst du das?
CR
Ja, gut (lacht).
SM
Dann habe ich dir meine These aus meinem „typografischen Manifest“ mitgebracht: »Schrift ist Emotion.«
CR
Ja, ich sehe Schrift vor allem als visuelle Stimme. Zum Beispiel gibt es das schöne deutsche Sprichwort: „Der Ton macht die Musik.“ Und Schrift macht den Ton von schriftlicher Sprache. Das anzufassen ist sehr, sehr interessant und damit zu experimentieren. Natürlich kannst du nicht schreiben ohne Worte zu benutzen, außer beispielsweise bei „Écriture automatique“, aber das geht mir tatsächlich schon wieder zu weit weg. Deshalb habe ich angefangen, mit Gedichten zu arbeiten, um mit Worten so zu arbeiten wie ich mit Gestaltung arbeite, wobei es viel mehr um ein Gefühl geht und gar nicht so sehr um Ratio. Ratio ist für mich ein sehr patriarchales Konzept der Aufklärung und darüber sollten wir langsam mal hinwegkommen.
SM
Ja, das stimmt auf jeden Fall. Sollte Schrift idealerweise den Inhalt der Sprache verkörpern?
CR
Kommt darauf an, was man machen will. Vielleicht auch das genaue Gegenteil. Ich finde nicht, dass Form der Function „followern“ muss.
SM
Ich finde das ganz interessant. Aktuell habe ich mir im Sprengel-Museum bei uns in Hannover die Kurt Schwitters-Ausstellung angeguckt und er war ja der Erste …
CR
Wer ist das noch mal?
SM
Das war ein hannoverscher Typograf und Künstler, der ganz experimentell mit Schrift im Bleisatz umgegangen ist und die Worte auch so gesetzt hat, wie sie ausgesprochen werden.
CR
Aah, jaja, aha.
SM
Also, für mich ist das auf jeden Fall sehr interessant, weil es komplett aus dem Raster, welches man damals hatte und das wir im Digitalen auch noch haben oder haben sollten, dass man da komplett ausbricht.
CR
Ja, Tod dem Raster. Ich liebe Raster … Ich kann reden und tippen gleichzeitig. Ich google nur mal kurz, ich guck mir das nur kurz an.
SM
Ja, super. Ich warte kurz. Er ist ganz experimentell mit den Flächen umgegangen, gerade hier bei dem einen comic-artigen … Es geht schon Richtung Dadaismus, obwohl die ihn nicht haben wollten – das ist ein anderes Thema.
CR
Ja, oh Gott, ja, da geht’s dann wieder um Inklusion, Exklusion und welchen Namen man sich gibt.
SM
Wie siehst du Schriftzüge in Sprechblasen in Comics.
CR
Gar nicht, weil ich mir eigentlich keine Comics angucke.
SM
Ich war auf der Suche nach Beispielen, in denen Schrift pure Emotion ist und gerade in Comics wird Schrift in Sprechblasen häufig sehr bunt oder klein dargestellt.
CR
Dazu habe ich keine Gefühle.
SM
Okay. Ich habe dir ein Zitat von Eugen Nerdinger
mitgebracht: „Schrift ist konservierte Sprache
durch den Charakter, welchen der Schriftgestalter
durch die Werkzeuge in seiner Kultur mitgibt, ent-
steht beim Leser ein Gefühl.“
Was denkst du darüber?
CR
Ich denke darüber, dass man seine Sprache mal „gendern“ sollte, weil es mittlerweile auch etliche Schriftgestalterinnen gibt. Ja, kann ich das nochmal lesen? Ich bin so schlecht im Zuhören.
SM
Ja.
CR
Im Design arbeitet man immer mit Klischees. Man hat halt immer diese Referenzen, die Klischees sind. Zum Beispiel wenn ich über die Marguerite sage, dass sie weibliche Formen hat, dann hat das natürlich nur mit der Konnotation von „weiblich“ über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg zu tun. Und das ist natürlich eigentlich etwas, wogegen man kämpfen sollte, aber wenn wir diese Referenzen nicht hätten, dann hätten wir wahrscheinlich auch dieses Gefühl nicht. Jetzt kann man sich fragen, ob diese Gefühlsassoziationen etwas Kultiviertes oder etwas Natürliches sind. Das ist nochmal eine ganz andere Research Question.
SM
Ja. Ich habe vor zwei Jahren in Eindhoven als Abschlussarbeit eine Installation gesehen, bei der zwei Personen in Kästen waren und man über Face Tracking die Typografie von Nachrichten auf dem Bildschirm verändern konnte. Ein ähnliches Projekt habe ich jetzt noch mal gefunden. Es heißt Elefant Grotesk. Ich weiß nicht, ob du das kennst und …
CR
Ne. Wie funktioniert das?
SM
Du hast eine Kamera, zum Beispiel von deinem MacBook und kannst hier über Face Tracking Grimassen schneiden, also „happy“ oder „traurig“ gucken, „verwirrt“ und so weiter. Du kannst auch etwas in diesen Bereich schreiben und dann wird die Schrift angepasst.
CR
Aha, also grundsätzlich finde ich den Ansatz natürlich spannend und interessant. Das Problem, das ich daran sehe, ist, dass es so datenbasiert ist und Face Tracking benutzt. Solchen Sachen stehe ich eher kritisch gegenüber, einfach weil man nicht weiß, wohin die Daten gehen. Was bedeutet es, wenn unsere Gesichter so „normisiert“ werden? Wo ist da dieser Rahmen für das menschliche Versagen? Es ist ein interessantes Konzept, aber sobald man diese Prozesse automatisiert, verschwindet auch wieder das Menschengemachte, daher ist es irgendwie ein Widerspruch in sich selbst.
SM
Auch diese Fehler passieren durch Zufälle im Kreativprozess.
CR
Ich will mich einfach nicht facetracken lassen.
SM
Ich habe dir mein Lieblingsbuch „Über Schrift und Druck“ von Dr. Karl Klingspor mitgebracht, das behandelt, wie Schrift auf uns wirken kann.
CR
Von wann ist das?
SM
Das ist von 1948.
CR
Aha. Bist du ein bisschen nostalgisch?
SM
Ja, aber nur so ein bisschen, weil ich es aktuell interessant finde, wo Schriftentwicklung herkommt und mich damit ganz viel beschäftige. Wie wirkt Handschrift auf dich im Gegensatz zu Bleilettern oder dann digitalen Schriften?
CR
Es ist eine wesentlich persönlichere und menschlichere und weniger einheitliche Schrift. Aber ich befasse mich zum Beispiel nicht mit Handschrift, weil es ein anderes Medium ist. Ich habe keinen Hintergrund in Kaligrafie und es interessiert mich auch nicht so sehr. Es geht mir tatsächlich um diese Zeichen. Obwohl ich bei diesem oberen Beispiel finde, dass die Handschrift fast brutaler aussieht als die gesetzte Schrift, hat es stark damit zu tun wer schreibt und wie viel Zeit man dafür hat. Oder wie verzweifelt man ist, wenn man Gott anruft? Ja.
SM
Okay. Dann habe ich mir Gedanken gemacht, wo man emotionale Schrift findet und habe mich mit Liebesbriefen von Dichtern beschäftigt. Denkst du, dass das auch digital funktionieren kann?
CR
Ich habe auch schon Liebesbriefe in meinen eigenen Schriften gesetzt.
SM
Okay.
CR
Ja, aber da ich die dann selber gemacht habe – klar. Wuo… Wenn mir jemand einen Liebesbrief in Helvetica schicken würde – das wäre keine erfolgreiche Beziehung. Hast du auch ein Zitat von einer Frau mitgebracht?
SM
Leider nicht.
CR
Schade.
SM
Hast du eins für mich?
CR
Ne. Ich selbst habe tatsächlich gar keine Designtheorie gelesen, sondern viel Feministische Theorie oder Antikapitalistische Theorie. Das Zitat von Audre Lorde aus ihrem Essay „Uses of the Erotic“ vorhin gibt meine Haltung zu Gestaltung ganz gut wieder. Da geht es um „deeper knowledge“ und Intuition, die man sich zu eigen machen kann. Und das ist genau das, was das Patriarchat oder die Aufklärung verboten hat, gerade die weiblichen, nächtlichen Qualitäten. Weil uns halt eine gewisse Sensibilität zugeschrieben wird, mehr oder minder.
SM
Hast du das Zitat noch?
CR
Ja, ich müsste es mittlerweile auswendig können:
»Beyond the superficial, the considered phrase, ‘It feels right to me’ acknowledges the strength of the erotic into a true knowledge, for what that means is the first and most powerful guiding light towards any understanding.«
– Audre Lorde von 1982.
SM
Sehr gut. Ich habe dir noch die Kernaussage des „typografischen Manifestes“, an dem ich sitze, mitgebracht:
„Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung
an alle, die zweidimensionale Monitorfläche zu
verlassen, um Schrift wieder handwerklich oder
haptisch mit den Händen im Raum zu erfahren.“
Was denkst du darüber?
CR
Ich finde nicht, dass man alle Leute auffordern sollte, das zu tun. Ich finde, man sollte das mal haptisch erfahren haben, bevor man anfängt digitale Schrift zu machen, weil man dann versteht, wie Schrift funktioniert. Aber ich finde, dass der digitale Rahmen auch sehr viele spannende Möglichkeiten für Schriftgestaltung bietet. Beispielsweise eine „Variable Typeface“ kann man mit Webdesign sehr cool kombinieren. Mein Ding ist es nicht unbedingt, aber es bekommt dadurch halt eine ganz andere Dimension und vielleicht auch eine andere Form von Dreidimensionalität. Man kann durchaus ein Manifest darüber schreiben und in der Form ist es vielleicht auch in Ordnung, andere Leute so drastisch zu etwas aufzufordern.
SM
Henning Skibbe, ein Schriftgestalter aus Hamburg, hat gestern gesagt, dass er anderer Meinung ist als ich und ich im Bezug auf das Haptische stark von Holzbuchstaben ausgehe. Er hat auch gesagt, dass er es wichtig findet, dass Schriftgestalter mal eine Feder oder ein Handwerkszeug in der Hand hatten.
CR
Ja, ich finde es grundsätzlich auch wichtig zu verstehen, warum Schrift im digitalen Raum so aussieht, wie sie aussieht. Aber das hat natürlich auch ganz viel mit gelernten Dingen zu tun. Also, wenn du eine Serifenschrift digital anguckst, stellt sich die Frage, warum beim »w« der rechte Strich dünn und der linke dick ist. Das hat natürlich mit der Feder zu tun, aber stell’ dir mal vor wir hätten das nicht gehabt. Die Frage ist dabei natürlich, wie es vielleicht in 100 Jahren aussehen könnte, wenn die Welt eh wegen dem Klimawandel zerstört ist. Es geht darum zu verstehen, warum es gerade so aussieht wie es ist und, dass man es dann vielleicht auch brechen kann. Wir hatten jetzt vor 2, 3 Jahren diesen Trend mit den „Reverse Contrast“-Schriften, die man im digitalen Raum umsetzen kann. Also erst die Regeln lernen und dann brechen.
SM
Ich habe mich gefragt, ob man Emotionsmuster von Schriften lernen kann, gerade wenn man Schrift nicht lesen kann. Wie siehst du das? Also, wenn ich im öffentlichen Raum Schrift nicht als Informationsträger wahrnehme, sondern nur als Schrift wie sie ist. Die Frage ist also, ob wir das erlernen müssen oder ob wir dafür auch ein Bauchgefühl haben?
CR
Naja, das ist ja im Endeffekt visuelle Erziehung. Es beruht immer auf den Erfahrungen, die wir gemacht haben und ich denke schon, dass man das lernen kann. Wir hatten hier Matteo Broillet im Department, der in seiner Abschlussarbeit vor zwei Jahren darüber geschrieben hat, dass die spanische Polizei auf ihren Schusswesten eine Science Fiction-Schrift benutzt. Wir arbeiten ganz viel mit Konnotationen und mit gelernten Mustern. Und ich glaube total, dass es möglich ist, Dinge neu zu besetzen. Wenn wir jetzt zum Beispiel an Fraktur denken, die lange sehr geprägt wahrgenommen wurde. Die allererste Schrift, die ich gemacht habe, war „Helvetica Textbook Broken“ mit Frakturelementen für mein eigenes Corporate Design und dann haben Peter Zizka und Andreas Uebele darüber gestritten, ob man denn im Jahre 2014 eine „Identity“ aus Frakturschrift für sich selbst als Gestalterin machen könne. Das ist noch immer eine allgemeine Diskussion, wobei ich glaube, dass man es 2019 nicht mehr so debattieren würde, denn man kann diese Sachen immer neu besetzen. Aber es hängt natürlich auch damit zusammen, wer gewisse Ästhetiken für sich vereinnahmt. Zum Beispiel bedient sich Kanye West auf seiner Sunday Webseite dieser alten Meme Ästhetik, was ein super lustiges Beispiel ist. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass Kanye West sich jetzt selbst zu einem Meme macht – hat er nämlich schon längst – aber, wenn du dich jetzt so anguckst, ist es von vorne bis hinten hoffentlich ein ziemlich guter Witz.
SM
Ja, gut. Ich habe mich gerade in Hinsicht auf die Holzbuchstaben gefragt, ob das nicht alles Nostalgie ist und ob wir mit Hilfe der Digitalisierung eigentlich viel, viel bessere Werkzeuge haben, um Schrift zu gestalten.
CR
Naja, das kommt darauf an, wie du die Kategorie »Gut« und »Schlecht« einteilst.
SM
Also, einfacher.
CR
Ja, auf jeden Fall.
SM
… nicht mehr so kostenaufwändig im Gegensatz zu früher mit Bleisatz.
CR
Auch.
SM
Und, dass es die Möglichkeit gibt viel experimenteller mit Schrift umzugehen.
CR
Auch. Das heißt aber nicht, dass das andere schlechter ist.
SM
Ja, das stimmt.
CR
Also, ich versuche mich möglichst von den Kategorien »Gut« und »Schlecht« zu verabschieden, weil die so wertend sind und das hat so viel mit Angst zu tun. Wenn man sagt, dass gewisse Dinge schlecht sind und sich den Sachen verschließt und nicht versucht sie zu verstehen. Aber ich finde, dass jedes Werkzeug seine eigenen Stärken hat. Es benutzt ja niemand mehr Disketten, aber gerade gehen viele Leute wieder zurück zu Vinyl oder analoge Fotografie ist mit diesen Einwegkameras wieder da. Das analoge Arbeiten hat immer eine gewisse Qualität, die man digital nicht erzeugen kann und deshalb würde ich da nicht in gut oder schlecht, sondern dies nur in andere Prioritäten unterteilen.
SM
Und was ist interessanter als Gestalter? Ist es wichtig, verschiedene Werkzeuge oder Tools kennenzulernen und dann auszuwählen, wofür man sich jeweils entscheidet?
CR
Klar.
SM
… also wirklich Herumexperimentieren.
CR
Experimentieren ist immer gut.
SM
Wie stark experimentierst du in deinem Kreativprozess? Und sind dir dabei manuelle Werkzeuge nützlich? Du machst jetzt viel Keramiken, da hast du ja Ton vor dir und knetest den händisch.
CR
Ja, ja. Ich hatte voll die Offenbarung, als ich jetzt in Offenbach war, wurde ich gefragt, wieso ich jetzt eigentlich mit Keramik arbeite. Darüber hatte ich vorher noch nie so genau nachgedacht. Da ich 100%ige digitale Schriftgestalterin bin und tatsächlich fast nie vorher von Hand skizziere, sondern einfach mit „Glyphs“ anfange, ist für mich das Keramik machen das genaue Gegenteil. Denn es ist dreidimensional, es ist haptisch, es ist null digital, während meine Schriften zweidimensional, digital und schlecht anzufassen sind, weil man sonst Fingerabdrücke auf dem Bildschirm bekommt und das mag ich gar nicht.
SM
Wie wichtig ist dir bei so einem Prozess auch einfach Nonsense zu produzieren?
CR
Gut. Ja, am besten werden immer die Arbeiten, bei denen man sich denkt, dass es lustig wäre, wenn … und dann macht man richtig lustige Sachen. Zum Beispiel habe ich da drüben Kettenanhänger aus Keramik gemacht, die leider alle gebrochen sind. Aber es sind Ketten, bei denen ich aus Ton Würste gemacht habe und mit diesen in einer Schreibschrift Worte wie Babe und Gucci geschrieben habe und das finde ich extremst lustig.
SM
Super, dann komme ich auch schon zum Ende. Ich bedanke mich bei dir auf jeden Fall sehr für das Interview.
CR
Ja, du, schön das du da warst. Dankeschön.