Auf dem diesjährigen ADC Festival in Hamburg sammelte ich neue Ideen und Eindrücke. Dort hatte ich verschiedene Gespräche mit vielen unterschiedlichen Gestaltern. Hier lernte ich Henning Skibbe nach seinem Vortrag kennen, dem ich Ausdrucke meiner Schrift Genzsch Antiqua zeigte, welche ich im dritten Semester begann zu digitalisieren. Ich bat ihn, sich diese einmal anzuschauen. Bei einem Espresso in einem kleinen Café setzten wir uns zusammen, wo er mir Feedback zu meiner Schrift gab.
Während ich über meinen Thesen und dem Aufbau meiner Bachelorarbeit grübelte, flatterte ein schwarzer Brief zu mir nach Hause. Neugierig öffnete ich diesen. Nun hielt ich das Specimen der „NewsSans“ in den Händen. Es war ein wunderschön bedrucktes kleines Heftchen, welches die Vorzüge und die Idee dieser Schrift vermittelte.
Ich erkannte sofort, dass diese von Henning Skibbe ist und rief ihn an. Kurzerhand informierte ich ihn, worum es in meiner Bachelorarbeit geht und ob er Zeit für ein Interview hätte. Wir vereinbarten ein Treffen in Hamburg Altona.
Am 07.11.2019 um 09:30 Uhr setzte ich mich voller Vorfreude in den Regionalexpress nach Hamburg
Altona. Dort, um 13:00 Uhr angekommen fand ich, versteckt in einem kleinen Hinterhof, das Coworking Space „Fette Höfe“ in dem auch das Büro von Henning Skibbe ist. Er freute sich über mein Erscheinen und fragte, ob ich Hunger hätte. Kurze Zeit später saßen wir entspannt bei einem Indonesier und tauschten erste Fragen aus. Gut gestärkt gingen wir zurück und ich baute mein Audioequipment im Konferenzraum des Coworking Spaces auf …
SM
Ich spreche heute mit einem Kommunikationsdesigner und Schriftgestalter im Coworking Space „Fette Höfe“ in Hamburg. Die ausgezeichnete Schriftfamilie„Haptic“ sowie die Schriften der Süddeutschen Zeitung stammen von ihm. Zuletzt publizierte er die neue Schriftfamilie „NewSans“ mit 90 Schnitten.
Hallo Henning Skibbe. Schön, dass du hier bist. Woran hast du zuletzt gearbeitet?
HS
Woran ich zuletzt gearbeitet habe? Ich arbeite an ganz vielen Sachen parallel. Gerade habe ich an einer Serifen-Variante der „News“ gesessen, quasi der „News Serif“ sozusagen. Dabei teste ich momentan die unterschiedlichen Gewichte aus, um zu schauen, ob mein Gestaltungsmodell über die Schriftschnitte hinweg funktioniert. Von ganz Fett bis ganz Light, als Displayschnitt und so weiter.
SM
Ich habe ein paar Sätze mitgebracht, die du gerne ergänzen kannst. Typografie war früher …
HS
Früher? … Ist das überhaupt eine Kategorie für mich? Typografie war früher genauso spannend wie es jetzt ist. Typografie war früher einseitiger, etwas weniger komplex. Es ist sowohl durch das Digitale, als auch durch die unterschiedlichen Produktionsmöglichkeiten im Analogen etwas hinzugekommen. Typografie war früher weniger komplex und kompliziert, weil es auch weniger Optionen gab. Noch nicht mal nur auf das Digitale bezogen, sondern auch einfach in Hinsicht auf Schriften, die Auswahl und die Möglichkeiten. Heutzutage sind die Möglichkeiten der Typografie um ein Vielfältiges höher, was es natürlich komplexer macht.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals …
HS
Ohne Schrift hätte ich niemals … ein Buch gelesen. Zumindest, wenn wir es auf die Schriftgestaltung beziehen. Ohne Schriftgestaltung hätte ich niemals eine Schrift gestaltet. Also, ich weiß es nicht. Musst du überspringen. Sorry.
SM
Welches Buch hat dich zuletzt begeistert und warum?
HS
Gestalterisch oder inhaltlich?
SM
Gerne beides.
HS
Zugegebenermaßen lese ich nicht mehr so viele Bücher wie früher. Ich bin immer noch ein großer Fan von Daniel Kehlmann und finde, dass „Till“ großartig gelungen ist. Gestalterisch – weiß ich nicht, keine Ahnung. Ich bleibe bei Daniel Kehlmann. Das ist gut.
SM
Was bedeutet Schrift für dich?
HS
Schrift ist mein Lebensunterhalt, der Lebensunterhalt meiner Familie. Das ist jetzt vielleicht eine sehr unleidenschaftliche Antwort, aber im Kern ist es schon so. Gleichzeitig ist es aber auch eine leidenschaftliche Antwort, weil ich mich freue, dass ich von Schrift leben kann. Wenn ich nicht von Schrift leben könnte, könnte ich nicht Schriften machen und dann würde mir etwas fehlen. Darüber bin ich also sehr dankbar und freue mich sehr darüber, dass ich von Schrift leben kann. Dass ich von etwas leben kann, wovon die meisten noch nicht mal wissen, dass es das gibt. Und dass es etwas ist, was mich begeistert und das ich großartig finde und mir viel Spaß macht. Dass ich mich und meine Familie von etwas ernähren kann, wofür ich eine Leidenschaft habe – das freut mich.
SM
Ich habe herausgefunden, dass Schrift sich mit neuen Anforderungen, die an sie gestellt werden, den Medien anpassen muss. Wie siehst du das aktuell im Digitalen? Muss Schrift sich den digitalen Anforderungen, die gestellt werden, anpassen?
HS
Ja, klar. Wenn eine Schrift am Bildschirm scheiße aussieht, dann ist die Schrift scheiße und nicht der Bildschirm. Natürlich kann man auch sagen, dass es ein schlechter Bildschirm oder schlechtes Papier wäre. Das kann bis zu einem bestimmten Grad natürlich sein, aber am Ende heißt es nur, dass man nicht die richtige Schrift für das Medium, auf dem ich sie abbilde oder in dem ich sie abbilde, habe. Daher muss sich Schrift anpassen. Es gibt zwei parallele Stränge: einerseits den technologischen Strang, also andere Papiere, andere Druckmöglichkeiten, andere Darstellungsmöglichkeiten am Bildschirm, hochauflösende Displays, sich dem Umgebungslicht anpassende Bildschirme ecetera. Und der andere Entwicklungsstrang ist derjenige der Schriftentwicklung. Ich würde sagen, dass zumeist die Technologie voranschreitet und die Schrift folgt. Die Typografen und Schriftgestalter sehen ein Bedürfnis, die Schrift einem Medium anzupassen. Daher werden sich sowohl die Technologie, als auch die Schriftdarstellungsmöglichkeiten weiter entwickeln, also muss sich die Schrift auch weiterentwickeln.
SM
Welchen Einfluss haben Werkzeuge auf das Aussehen einer Schrift? Ich habe überlegt, wie Schriften früher und heute entworfen werden. Dazu habe ich dir das Buch „Über Schönheit von Schrift und Druck“ von Dr. Karl Klingspor aus dem Jahr 1948 mitgebracht. Darin gibt es zwei schöne Illustrationen, die ich dir gerne einmal zeigen würde. Was denkst du über diese Abbildungen?
HS
Es sind die Berufe des Stempelschneiders und des Matrizenbohrers abgebildet. Ich würde behaupten, dass beide Berufe nur bedingt etwas mit Schriftgestaltung zu tun haben. Auch die Buchstaben, die hier zu sehen sind – Fraktur „m“ und „n“ – sind beide nicht auf der Matrize oder vom Stempelschneider gestaltet worden. Natürlich ist klar, dass der Stempelschneider immer nochmal Anpassungen vorgenommen hat, zumindest wenn es ein guter Stempelschneider war, der den Charakter einer Schrift und die Intention des Schriftgestalters verstanden hat. Dem Material und auch der Punktgröße entsprechend hat der Stempelschneider noch Justierungen vorgenommen, auch gestalterischer Art. Aber diese Veränderungen wurden immer im Sinne und in Abstimmung mit dem Schriftgestalter gemacht. Daher haben die beiden Berufe vordergründig erstmal gar nichts mit Schriftgestaltung zu tun. Auf der anderen Seite sagt man immer, dass Schrift vom Schreiben kommt. Wenn ich jetzt schreibe und daraus dann eine Schrift mache, dann ist natürlich das Ursprungswerkzeug durchaus entscheidend gewesen für die Form der Buchstaben, für die Art des Kontrastes, für die Art des Linienzuges und für die Spannung in den Buchstaben. Je nachdem, ob ich eine Breitfeder, Spitzfeder oder Rundfeder, ob ich einen Pinsel oder einfach Kugelschreiber benutze. Ich glaube aber, dass man mit dieser Definition Schriftgestaltung heute nicht ganz zu Ende denken kann, weil wir vom Gedankenmodell her eigentlich weiter sind. Wir sind ja nicht mehr darauf limitiert, dass ich eine Schrift, in diesem Fall die Fraktur mit Breitfeder geschrieben, als Vorlage habe. Ich bin ja nicht mehr auf diese Vorlage angewiesen, sondern digitalisiere die Vorlage möglicherweise. Und dann habe ich alle Möglichkeiten des Digitalen, um etwas daraus zu entwickeln. Ich kann natürlich auch Schriften auseinandernehmen und neu zusammenbauen oder ich kann Kontraste miteinander mischen oder Kontraste umdrehen und ich kann Dinge miteinander kombinieren, die zuvor mit analogen Werkzeugen so nicht möglich waren. Im Zeitalter der digitalen Möglichkeiten ist Schrift eigentlich nur noch durch unsere Vorstellungskraft limitiert. Sie ist limitiert durch die notwendige Entzifferbarkeit, denn die Leser müssen entziffern können, was ich gestalte. Natürlich gibt es da Unterschiede, ob man beispielsweise Headlines setzt oder Text und das muss den Lesegewohnheiten einer größeren Masse von Menschen entsprechen. Insofern kann ich mit meinen Experimenten, Gedanken und Ideen nicht so sehr von Konventionen abweichen. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass Schrift vom Schreiben kam und sich die Form des Buchstaben die allerlängste Zeit immer auf das Werkzeug bezogen hat. Aber seit 20, 25, 30 Jahren ist in der Schriftgestaltung vieles gestalterisch auserzählt, was sich auf das ursprüngliche Werkzeug berufen würde.
SM
Im Gegensatz zu früher ist es heutzutage sehr einfach geworden Schriften zu erstellen. Im Vergleich zum früheren Bleisatz kann man mit einem Computerprogramm sehr schnell und effizient Schriften erstellen. Hat das Einfluss auf die Qualität der Schriften genommen?
HS
Das ließe sich jetzt so leicht sagen. Die Verfügbarkeit der Mittel und die Verfügbarkeit der Herstellung hat das natürlich einem riesigen Feld an Menschen zugänglich gemacht, denen Schriftgestaltung zuvor nicht zugänglich war als die Werkzeuge nicht zur Verfügung standen. Wenn man früher vielleicht mit dem Schreiben angefangen hat, es dann auf Papier übertragen hat, aber spätestens an dem Punkt vielleicht stecken geblieben ist, als es darum ging, das reproduzierbar zu machen, beispielsweise in Blei- oder Fotosatz oder wie auch immer, also da war die Limitierung der Mittel da. Das hat mit Sicherheit einen Teil der Menschen, die großes Talent dafür gehabt hätten Schrift zu machen, davon abgehalten. Diese Schwelle war so groß, dass sie nur Wenige überschreiten konnten.
SM
Albrecht Dürer hat wohl im Auftrag des Kaisers damals geometrische Schriften oder die Geometrien von Schriften dargestellt. Also das ist wirklich ein Privileg so etwas machen zu dürfen, jemanden zu finden, der das dann finanziert. Heutzutage muss das nicht mehr der Fall sein, man braucht keinen Förderer mehr, um Schriften entwerfen zu können.
HS
Klar, bei deinem Beispiel befinden wir uns in einer Zeit, in der grundlegende Bildung ein Privileg war. Aber gehen wir ins zwanzigste Jahrhundert, Mitteleuropa in den 1960er und 1970er Jahren in Friedenszeiten, in der Bildung in Mitteleuropa grundsätzlich zugänglich war. Selbst da gab es noch diese Schwelle. Du konntest Bildung haben, du konntest Lesen und Schreiben. Der Zugang zu Schrift, dem Schriftverständnis und den Inhalten, das war ja zugänglich. Trotzdem musste es a) irgendwie Leute geben, die das Schriftgestalten unterrichten und b) musste es Leute geben, die sich dafür interessieren. Die mussten zusammenfinden und diejenigen, die Schrift gestaltet haben, mussten in Positionen kommen, durch die diese Schriften dann auch produziert und irgendwann gedruckt werden konnten. Man ging ja ein Risiko ein, wenn man nicht nur einen Entwurf zeichnen ließ, sondern diesen auf Bleisatz übertrug und die Schriften in Blei gießen ließ. Das beschäftigte ganze Gewerke-Gruppen plus Materialkosten, Maschinenkosten und so weiter. Die finanzielle Hürde war sehr hoch, was Anfang der 1990er Jahre mit dem Computerprogramm „Fontographer“ dann komplett kippte. Dadurch konnte ein einzelner Mensch ohne großen Materialaufwand komplette Schriften produzieren, die wiederum so vervielfältigt und verbreitet werden konnten, dass sie der ganzen Welt zugänglich waren. Bezogen auf eine Veränderung der Qualität würde ich sagen, dass einerseits sehr viele qualitativ hochwertige Schriften seitdem pro Jahr produziert werden. Sogar Schriften, die nicht nur qualitativ hochwertig produziert sind, sondern auch noch eine gestalterische Idee haben, die mit Freude von Typografen und Designern aufgegriffen wird und die sozusagen das Feld der Typografie und Schriftgestaltung erweitern. Wir leben heute in einer Zeit, in der wir eine viel höhere Qualität haben als wir sie jemals zuvor hatten. Andererseits ist die Masse natürlich eher an Qualität gesunken. Wenn ich beispielsweise bei „myfonts“ gucke, wie viel Schriften da jeden Tag veröffentlicht werden und wie viel davon Qualität ist, wenn ich nur diese Betrachtungsweise annehme, dann ist die Qualität gesunken. Aber ich finde das ist eine unzureichende Betrachtungsweise, es ist zu kurz gedacht. Es ist besser, wenn die Masse hoch ist und dabei viel Schrott ist, aber dafür auch viel gute Schrift und Qualität in der Schriftgestaltung produziert wird, als dass ich aus Sicht des Typografen mit Times New Roman und Helvetica da sitze und darauf hoffe, dass vielleicht in 5 oder 10 Jahren mal die nächste Thesis produziert wird. Von daher leben wir in einer aufregenden Zeit. Man muss sich durch die Masse wühlen und es ist eine Aufgabe der Typografen und Designer die Qualität zu suchen und auch dem Kunden zu zeigen.
SM
Ich glaube auch, dass das digitale Werkzeug einem die Offenheit dafür gegeben hat. Ich kann viel mehr herumexperimentieren, ich kann versuchen Grenzen zu sprengen, um zu gucken, was überhaupt möglich ist, was überhaupt noch lesbar ist. Also was der Andere gegenüber wahrnehmen kann. Ich habe dir meine These mitgebracht: »Schrift ist Entwicklung.« Was denkst du darüber?
HS
Ja – Punkt. Schrift ist Entwicklung, das ist ganz richtig. Ich fühle mich jetzt nicht in der Lage hier einen kompletten historischen Abriss dazu zu geben, aber am Ende ist es auch eine Beobachtung. Beispielsweise die Schriftfamilie als solche gibt es ja erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dabei gab es schon im frühen 15. Jahrhundert die „Kursive“ als gedruckte Schrift, es gab die „Aufrechte“ als gedruckte Schrift und dann in der „Romain de Roi“ wurden sie zum ersten Mal zusammengeführt, was wohl im 18. Jahrhundert war. Irgendwann kam „Bold“ als Familienelement dazu, das gab es das erste Mal mit einer „Clarendon“, ich glaube im späten 19. Jahrhundert und dabei war die noch nicht mal gestalterisch als Familie gedacht, sondern einfach als fette Auszeichnung eines Schriftentypus, aber sie passt jetzt auch nicht zu 100% dazu. Vom 15. Jahrhundert entwickelt sich die Schrift bis ins frühe 20. Jahrhundert, wo erstmals richtige Schriftfamilien gestalterisch konsistent über Schriftschnitte hinweg entstanden sind. Das ist ja eine sehr langsame Entwicklung, deren Gründe der Langsamkeit man auch historisch begründen kann. Im 20. Jahrhundert sieht man dann diese Beschleunigung, die plötzlich stattfindet. Und im bislang bekannten Teil des 21. Jahrhunderts ist die Geschwindigkeit fast schon erschreckend, wenn man überlegt wie die Kurve weitergehen soll. Bislang wäre es ja so eine Hockeyschläger-Kurve, die immer steiler wird. Daher ist die Frage, ob es irgendwann den Punkt gibt, wo das auserzählt ist? Bestimmte Dinge der Schriftgestaltung sind endlich. Wenn wir uns angucken, dass irgendwann die Groteskschriften, also Schriften ohne Serifen und dann „Slab Serifes“ dazukamen und Schriftfamilien immer größer wurden. Ich glaube, diese Modelle sind auserzählt. Ich glaube, es wird kein neues Schriftmodell als solches im Sinne der lateinischen Schriften mehr geben. Die Kombinationsmöglichkeiten sind da erschöpft. Man kann natürlich solche Bastarde machen, wo das eine mit dem anderen verhakelt wird, es aber nicht dazugehört, was aus meiner Sicht aber kein neues Grundmodell ergibt. Das Spektrum der Varianz und die persönliche Sichtweise eines Schriftgestalters, auf eine bestimmte Art von Schrift oder die eines Unternehmens, können da ausschlaggebend sein. Entweder gestaltet ein Schriftgestalter nach seiner Façon und aus seiner Sozialisierung heraus und aus dem, was er oder sie gut findet oder aus dem, was diese Person gerne sehen würde und gestaltet innerhalb der großen Modelle, ob das jetzt Antiqua, Sans, humanistische Sans, geometrische Sans, bicetera, etc. ist. Oder ein Unternehmen möchte eine bestimmte Erzählung durch eine passende Schrift hervorrufen. Zusammengefasst kann ich sagen, dass die Modelle als solches meines Erachtens nach auserzählt sind, aber es gibt natürlich eine unendliche Varianz zwischen ihnen. Es wird interessant sein zu sehen, ob es irgendwann so feingliedrig wird, dass es keinen Unterschied mehr macht.
SM
Darüber habe ich auch mit Herrn Forssman gesprochen. Er hat nämlich gesagt, dass wir die Zwischenräume zwischen den Klassikern füllen. Das heißt, zwischen einer Times und einer Helvetica zum Beispiel, zwei sehr unterschiedlichen Schriften und dazwischen werden die Zwischenräume immer mehr befüllt.
HS
Ja, das ist richtig. Ich finde es interessant darüber nachzudenken, ob das auch einen gesellschaftlichen Bezug hat. Wenn man davon ausgeht, dass wir in einer immer individualistischeren Gesellschaft leben, hier zumindest in der westlichen Welt, dann darf man natürlich die Frage stellen: Hat das damit zu tun? Oder hat es eigentlich eher damit zu tun, dass schon etwas abgeschlossen ist und die großen Modelle erforscht sind, sodass jetzt quasi die Nuancen dazwischen gefunden werden. Ich glaube, es ist Letzteres. Aber es spielt natürlich der gesellschaftlichen Entwicklung in die Hand. Der individualistischen Gesellschaft, in der Einzelne als Individuen wahrgenommen herausstehen möchten und alles auf sich zugeschnitten haben möchten, was sich dann wieder auf Marken übertragen lässt. Dieses Individualistische lässt sich auf Marken übertragen, weil jede Marke eben nicht nur mit Helvetica daherkommen möchte, sondern mit ihrer Version der Helvetica oder mit ihrer Version einer Mischung aus Helvetica und geometrischer Sans. Das sind so Tendenzen, die sich da gegenseitig in die Hände spielen.
SM
Wie wird sich Schrift zukünftig in Bezug auf Variable-Fonts, 3D-Fonts und ähnliches entwickeln? Wird deiner Meinung nach in diese Richtung noch viel mehr experimentiert und ausprobiert werden oder sind da irgendwo auch die Grenzen erreicht?
HS
Ich glaube, dass alles, was digital ist, sich sehr an „Variable-Fonts“ erfreuen wird. Ich glaube, dass sie wenig Bedeutung für Print haben werden. Bei Animation ist es so eine Sache. Du kannst unendlich viele Varianten einer Schriftfamilie erstellen und es ist die Frage: Welche Eckpunkte beziehungsweise welche Master hast du? Und wie unterschiedlich sind die? Und wie vielfältig sind sie? Je vielfältiger sie sind, desto mehr kannst du dazwischen machen. Wenn du bei Lucas de Groot auf die neue Webseite [https://www.lucasfonts.com/] gehst, die gestern online geschaltet wurde, ist das Logo aus einem „Variable Font“ und animiert sich, wenn du mit der Maus darüber gehst. Wenn es um Animation geht, frage ich mich oft, ob sich das nicht alles auch einfacher mit anderen Techniken machen ließe? Warum muss man da jetzt ein Font nehmen? Ist es dann nur eine Spielerei, dass man diese Art von Animation, von Interaktivität mit Fonts machen kann? Aber ich glaube, dass sich aus diesen Experimenten Rückschlüsse für die Schrift ergeben, selbst wenn diese Spielereien vielleicht ein bisschen sinnlos sind, weil man es mit anderen Animationstechniken oder Programmiertechniken viel besser machen könnte. Ich denke, es werden sich daraus durchaus Rückschlüsse für die Schrift ergeben. Ich glaube jetzt nicht, dass Animation das große Ding sein wird, aber zum Beispiel, dass vor allem große Webseiten zukünftig hauptsächlich mit „Variable Fonts“ betrieben werden, weil die Anpassungsmöglichkeiten, die wir bei „Responsive Webdesign“ haben, damit sich die Webseite auf das Endgerät anpasst, auf dem sie angezeigt wird, den Variable Fonts in die Hände spielt.
SM
Das stimmt auf jeden Fall. Welcher Faktor spielt Zeit in deiner Arbeit als Schriftgestalter?
HS
Ein großer. Ich habe vorher in einer Agentur gearbeitet, wo ich meine Mitarbeiter hatte und jetzt bin ich erstmal alleine und muss alles selber machen. Das macht total viel Spaß, aber es ist auch langsamer. Für Corporate-Projekte habe ich natürlich freie Mitarbeiter, damit man entsprechend der gewünschten Geschwindigkeit des Kunden arbeiten kann. Aber für die eigenen Projekte muss man sich die Zeit trotzdem nehmen. Man muss natürlich selber gucken, dass man sich durch eventuelle ökonomische Zwänge nicht hetzen lässt, aber man muss ja auch die Möglichkeit und die Zeit haben, seine eigenen Schriften in Frage zu stellen und zu kritisieren. Dann gegebenenfalls nochmal zu überarbeiten und das kann natürlich bei einer Schrift, die schon recht weit im Stadium ist, auch nochmal einiges an Zeit bedeuten.
SM
Entwickelt man Schriften am besten in Zusammenarbeit, insbesondere bei verschiedenen Sprachen?
HS
Auf jeden Fall, wobei es beim Lateinischen nicht zutrifft. Ich kann jetzt nicht sagen, dass es da am besten geht. Das ist echt typabhängig. Ich arbeite gerne im Team und ich bin da uneitel genug, sodass ich gute Ideen für meine Schrift dann auch annehmen und umsetzen kann. Aber was die Ausarbeitungen in anderen Skripten bedeutet – ob das jetzt griechisch oder kyrillisch ist oder meinetwegen Devanagari oder sonst was – das kannst du nicht machen, ohne dass du jemanden dabei hast, der zumindest ansatzweise muttersprachlich ist. Das ist bei griechisch und kyrillisch noch erlernbar, aber um so ferner die Kultur des Schriftsystems von der eigenen Sozialisierung ist, desto schwieriger wird es. In meinem Fall wäre das jetzt zum Beispiel Devanagari oder jedes andere asiatische Schriftsystem, das von meiner eigenen Sozialisierung, meinen eigenen Wahrnehmungen, meinen eigenen Schriftwahrnehmungen und meinem Leseverhalten so entfernt ist. Das ist so weit weg, dass ich vielleicht schöne Zeichen gestalten könnte, aber ob diese Zeichen dann irgendeinen Wert als Schrift haben – das würde ich nicht zu beurteilen wagen. Da muss man sich dann schon sehr ausgiebig mit diesem Schriftsystem beschäftigen und da hilft es, dann mit Leuten zusammenzuarbeiten, die Muttersprachler oder Mutterleser sind.
SM
Was würdest du einem jungen Gestalter oder einem Typografen mitgeben?
HS
Also erstmal einfach machen. a) Machen – nicht nur drüber reden, sondern machen, PS auf die Straße bringen. Und ich würde Jedem empfehlen, sich mit der Historie von Schrift, mit der Geschichte von Schrift, der Schriftgeschichte und Gestaltungsschriftgeschichte zu beschäftigen. Und da heraus dann aber den eigenen Weg zu suchen. Ich glaube, dass man in der Freien Kunst durchaus gut daran tut, die Kunstgeschichte zu kennen. Aber die Kunst als solches ist nochmal so viel freier, dass, wenn irgendjemand in der Lage ist aus sich heraus, aus seinem Talent heraus, aus seinen Fähigkeiten heraus Qualität und Neues zu liefern, dann kann das auch komplett losgelöst – ist natürlich nie losgelöst – aber dann kann das viel losgelöster passieren als in der Schriftgestaltung. In der Freien Kunst kann es viel losgelöster passieren, mit viel weniger Rücksicht auf die Schriftgeschichte oder auf die Kunstgeschichte in dem Falle, als wir es in Bezug auf die Schriftgeschichte können. Das liegt einfach daran, dass wir als Designer nicht im rein Künstlerischen, sondern immer auch im Dienstleistungsbereich, beziehungsweise im Informationsbereich arbeiten, also Informationen übermitteln. Das können wir nicht losgelöst von dem, was unsere Gesellschaft mitbringt. Und das ist nun mal die Geschichte und sind die Lasten der Vergangenheit. Ja, ich kann nicht erwarten, dass die Gesellschaft meine Schriftzeichen neu erlernt, sondern da muss ich dann vorangehen.
SM
Ich habe dir die Kernaussage meines „typografischen Manifestes“ einmal mitgebracht:
„Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung an alle, die zweidimensionale Fläche am Monitor zu verlassen, um wieder Schrift haptisch im Raum zu erfahren.“ Was denkst du darüber?
HS
Ich finde das sehr einschränkend. Ich glaube nicht, dass man den Monitor dazu verlassen muss. Ich glaube, den haptischen Bezug erhält man durch das Papier, denn die Schrift hat ja erstmal keinen haptischen Bezug. Nur wenn man den Bleibuchstaben in die Hand nimmt. Also entweder ist es zu allgemein gesprochen, wenn du von Schrift sprichst und in den haptischen Raum zurückkehren willst. Dann müsste man eigentlich sagen: Geh an die Werkbank zurück, lerne Buchstaben in Bleisatz, in Holzproduktion und dann in der Printproduktion, lerne das, nimm das wahr und find das gut – oder find’s auch doof. Aber zu sagen, dass man den Bildschirm dazu verlassen müsse, ist nicht nötig. Ich glaube, eine grundsätzliche Experimentierfreudigkeit und eine grundsätzliche Ausprobiermöglichkeit ist nötig. Das schließt, dieses dann wiederum mit ein zu sagen: Probiere Schrift aus und lerne die Geschichte, aber lass dich davon nicht zu übermannen und zu sehr beeindrucken, dass das alles schon so uralt ist und dass das alles so wahnsinnig tolle Erfindungen sind. Sondern lerne das, triff die Leute, die man dazu noch treffen kann, mach das. Aber wenn jemand sich entscheidet, das alles am Bildschirm zu machen und sich davon begeistern zu lassen und am Bildschirm krasse, mit Processing programmierte Schriftexperimente zu machen, finde ich das mindestens genauso ermutigenswert und wichtig wie das Andere. Also das Eine ist ja auch das Bewahren von etwas Historischem und das Andere ist noch mehr der Blick in die Zukunft oder zu dem, was vielleicht zukünftig kommen oder passieren wird.
SM
Denkst du für so eine Person, die nur im Digitalen gestaltet, wäre es gut, so einen Buchstaben mal haptisch anzufassen oder eher nicht? Oder denkst du, dass das was ganz persönliches ist?
HS
Ich glaube nicht, dass es nötig ist, dass jemand mal einen Bleisatzbuchstaben oder Holzbuchstaben in der Hand gehabt hat. Für jemanden, der am Computer arbeitet, ist es wichtig mal eine Feder in der Hand gehabt oder mit unterschiedlichen Schreibwerkzeugen geschrieben zu haben, um zu verstehen wie Tintenfluss ist, wie sich die Spannung einer Kurve aus dem Halten der Feder, aus dem Winkelgrad, aus der Zuggeschwindigkeit und diesen unterschiedlichen Parametern ein Buchstabe ergibt, um quasi zu verstehen, wo es herkommt. Das hat ja aber an sich nichts Haptisches, das hat ja nichts mit Anfassen von Schrift zu tun, sondern das ist Schriftgestaltung mit anderen Werkzeugen. Das halte ich durchaus für hilfreich. Und ich will das Andere gar nicht kleinreden, denn natürlich ist es schön, mal einen Bleisatzbuchstaben in der Hand gehabt zu haben und selber mal einen Stempel geschnitten oder was auch immer damit gemacht zu haben, aber ich glaube es ist viel entscheidender, dass man mal selbst geschrieben hat.
SM
Das stimmt. Warum entwickelst du neue Schriften und was motiviert dich dabei? Zum Beispiel jetzt gerade bei der „NewsSans“ mit 90 verschiedenen Schnitten?
HS
Naja, die „NewsSans“ ist aus meiner Erfahrung als Typograf heraus entstanden. Ich habe lange Zeit für große Unternehmen gearbeitet, die komplexe Schriftsysteme brauchen. Entweder im Editorial Design für komplexe Zeitschriften oder Informationsbündel, die dann in ein Magazin, Onlinemagazin oder wie auch immer gegossen werden, wo man dem Leser Führung geben muss. Genauso bei Corporate Designs, wo du einerseits etwas Simples gestalten möchtest, damit es eine Wiedererkennbarkeit bekommt, aber niemanden überfordert. Auf der anderen Seite muss es natürlich eine Vielfalt mitbringen und eine Vielfältigkeit haben und die Intention beziehungsweise die Beobachtung zu sagen: Ja, ich gestalte Schriften, die die komplexen Informationsanforderungen von Unternehmen im Editorial etc. möglicherweise mit einer Schriftfamilie abdecken können. Ich gestalte aus meiner Erfahrung als Typograf und als Gestalter heraus Schriften, von denen ich glaube, dass sie wichtig sind. Ich glaube, dass große umfangreiche Schriftfamilien durchaus etwas sind, was benötigt wird, um Typografen gute Werkzeuge zu geben. Diese Erfahrung ist meine Motivation, warum ich Schriften gestalte.
SM
Ja, das stimmt. Super, vielen Dank für das Interview.
HS
Sehr gerne.
Lesezeit: 00:34:12
Henning Skibbe, Hamburg
Auf dem diesjährigen ADC Festival in Hamburg sammelte ich neue Ideen und Eindrücke. Dort hatte ich verschiedene Gespräche mit vielen unterschiedlichen Gestaltern. Hier lernte ich Henning Skibbe nach seinem Vortrag kennen, dem ich Ausdrucke meiner Schrift Genzsch Antiqua zeigte, welche ich im dritten Semester begann zu digitalisieren. Ich bat ihn, sich diese einmal anzuschauen. Bei einem Espresso in einem kleinen Café setzten wir uns zusammen, wo er mir Feedback zu meiner Schrift gab.
Während ich über meinen Thesen und dem Aufbau meiner Bachelorarbeit grübelte, flatterte ein schwarzer Brief zu mir nach Hause. Neugierig öffnete ich diesen. Nun hielt ich das Specimen der „NewsSans“ in den Händen. Es war ein wunderschön bedrucktes kleines Heftchen, welches die Vorzüge und die Idee dieser Schrift vermittelte.
Ich erkannte sofort, dass diese von Henning Skibbe ist und rief ihn an. Kurzerhand informierte ich ihn, worum es in meiner Bachelorarbeit geht und ob er Zeit für ein Interview hätte. Wir vereinbarten ein Treffen in Hamburg Altona.
Am 07.11.2019 um 09:30 Uhr setzte ich mich voller Vorfreude in den Regionalexpress nach Hamburg
Altona. Dort, um 13:00 Uhr angekommen fand ich, versteckt in einem kleinen Hinterhof, das Coworking Space „Fette Höfe“ in dem auch das Büro von Henning Skibbe ist. Er freute sich über mein Erscheinen und fragte, ob ich Hunger hätte. Kurze Zeit später saßen wir entspannt bei einem Indonesier und tauschten erste Fragen aus. Gut gestärkt gingen wir zurück und ich baute mein Audioequipment im Konferenzraum des Coworking Spaces auf …
SM
Ich spreche heute mit einem Kommunikationsdesigner und Schriftgestalter im Coworking Space „Fette Höfe“ in Hamburg. Die ausgezeichnete Schriftfamilie„Haptic“ sowie die Schriften der Süddeutschen Zeitung stammen von ihm. Zuletzt publizierte er die neue Schriftfamilie „NewSans“ mit 90 Schnitten.
Hallo Henning Skibbe. Schön, dass du hier bist. Woran hast du zuletzt gearbeitet?
HS
Woran ich zuletzt gearbeitet habe? Ich arbeite an ganz vielen Sachen parallel. Gerade habe ich an einer Serifen-Variante der „News“ gesessen, quasi der „News Serif“ sozusagen. Dabei teste ich momentan die unterschiedlichen Gewichte aus, um zu schauen, ob mein Gestaltungsmodell über die Schriftschnitte hinweg funktioniert. Von ganz Fett bis ganz Light, als Displayschnitt und so weiter.
SM
Ich habe ein paar Sätze mitgebracht, die du gerne ergänzen kannst. Typografie war früher …
HS
Früher? … Ist das überhaupt eine Kategorie für mich? Typografie war früher genauso spannend wie es jetzt ist. Typografie war früher einseitiger, etwas weniger komplex. Es ist sowohl durch das Digitale, als auch durch die unterschiedlichen Produktionsmöglichkeiten im Analogen etwas hinzugekommen. Typografie war früher weniger komplex und kompliziert, weil es auch weniger Optionen gab. Noch nicht mal nur auf das Digitale bezogen, sondern auch einfach in Hinsicht auf Schriften, die Auswahl und die Möglichkeiten. Heutzutage sind die Möglichkeiten der Typografie um ein Vielfältiges höher, was es natürlich komplexer macht.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals …
HS
Ohne Schrift hätte ich niemals … ein Buch gelesen. Zumindest, wenn wir es auf die Schriftgestaltung beziehen. Ohne Schriftgestaltung hätte ich niemals eine Schrift gestaltet. Also, ich weiß es nicht. Musst du überspringen. Sorry.
SM
Welches Buch hat dich zuletzt begeistert und warum?
HS
Gestalterisch oder inhaltlich?
SM
Gerne beides.
HS
Zugegebenermaßen lese ich nicht mehr so viele Bücher wie früher. Ich bin immer noch ein großer Fan von Daniel Kehlmann und finde, dass „Till“ großartig gelungen ist. Gestalterisch – weiß ich nicht, keine Ahnung. Ich bleibe bei Daniel Kehlmann. Das ist gut.
SM
Was bedeutet Schrift für dich?
HS
Schrift ist mein Lebensunterhalt, der Lebensunterhalt meiner Familie. Das ist jetzt vielleicht eine sehr unleidenschaftliche Antwort, aber im Kern ist es schon so. Gleichzeitig ist es aber auch eine leidenschaftliche Antwort, weil ich mich freue, dass ich von Schrift leben kann. Wenn ich nicht von Schrift leben könnte, könnte ich nicht Schriften machen und dann würde mir etwas fehlen. Darüber bin ich also sehr dankbar und freue mich sehr darüber, dass ich von Schrift leben kann. Dass ich von etwas leben kann, wovon die meisten noch nicht mal wissen, dass es das gibt. Und dass es etwas ist, was mich begeistert und das ich großartig finde und mir viel Spaß macht. Dass ich mich und meine Familie von etwas ernähren kann, wofür ich eine Leidenschaft habe – das freut mich.
SM
Ich habe herausgefunden, dass Schrift sich mit neuen Anforderungen, die an sie gestellt werden, den Medien anpassen muss. Wie siehst du das aktuell im Digitalen? Muss Schrift sich den digitalen Anforderungen, die gestellt werden, anpassen?
HS
Ja, klar. Wenn eine Schrift am Bildschirm scheiße aussieht, dann ist die Schrift scheiße und nicht der Bildschirm. Natürlich kann man auch sagen, dass es ein schlechter Bildschirm oder schlechtes Papier wäre. Das kann bis zu einem bestimmten Grad natürlich sein, aber am Ende heißt es nur, dass man nicht die richtige Schrift für das Medium, auf dem ich sie abbilde oder in dem ich sie abbilde, habe. Daher muss sich Schrift anpassen. Es gibt zwei parallele Stränge: einerseits den technologischen Strang, also andere Papiere, andere Druckmöglichkeiten, andere Darstellungsmöglichkeiten am Bildschirm, hochauflösende Displays, sich dem Umgebungslicht anpassende Bildschirme ecetera. Und der andere Entwicklungsstrang ist derjenige der Schriftentwicklung. Ich würde sagen, dass zumeist die Technologie voranschreitet und die Schrift folgt. Die Typografen und Schriftgestalter sehen ein Bedürfnis, die Schrift einem Medium anzupassen. Daher werden sich sowohl die Technologie, als auch die Schriftdarstellungsmöglichkeiten weiter entwickeln, also muss sich die Schrift auch weiterentwickeln.
SM
Welchen Einfluss haben Werkzeuge auf das Aussehen einer Schrift? Ich habe überlegt, wie Schriften früher und heute entworfen werden. Dazu habe ich dir das Buch „Über Schönheit von Schrift und Druck“ von Dr. Karl Klingspor aus dem Jahr 1948 mitgebracht. Darin gibt es zwei schöne Illustrationen, die ich dir gerne einmal zeigen würde. Was denkst du über diese Abbildungen?
HS
Es sind die Berufe des Stempelschneiders und des Matrizenbohrers abgebildet. Ich würde behaupten, dass beide Berufe nur bedingt etwas mit Schriftgestaltung zu tun haben. Auch die Buchstaben, die hier zu sehen sind – Fraktur „m“ und „n“ – sind beide nicht auf der Matrize oder vom Stempelschneider gestaltet worden. Natürlich ist klar, dass der Stempelschneider immer nochmal Anpassungen vorgenommen hat, zumindest wenn es ein guter Stempelschneider war, der den Charakter einer Schrift und die Intention des Schriftgestalters verstanden hat. Dem Material und auch der Punktgröße entsprechend hat der Stempelschneider noch Justierungen vorgenommen, auch gestalterischer Art. Aber diese Veränderungen wurden immer im Sinne und in Abstimmung mit dem Schriftgestalter gemacht. Daher haben die beiden Berufe vordergründig erstmal gar nichts mit Schriftgestaltung zu tun. Auf der anderen Seite sagt man immer, dass Schrift vom Schreiben kommt. Wenn ich jetzt schreibe und daraus dann eine Schrift mache, dann ist natürlich das Ursprungswerkzeug durchaus entscheidend gewesen für die Form der Buchstaben, für die Art des Kontrastes, für die Art des Linienzuges und für die Spannung in den Buchstaben. Je nachdem, ob ich eine Breitfeder, Spitzfeder oder Rundfeder, ob ich einen Pinsel oder einfach Kugelschreiber benutze. Ich glaube aber, dass man mit dieser Definition Schriftgestaltung heute nicht ganz zu Ende denken kann, weil wir vom Gedankenmodell her eigentlich weiter sind. Wir sind ja nicht mehr darauf limitiert, dass ich eine Schrift, in diesem Fall die Fraktur mit Breitfeder geschrieben, als Vorlage habe. Ich bin ja nicht mehr auf diese Vorlage angewiesen, sondern digitalisiere die Vorlage möglicherweise. Und dann habe ich alle Möglichkeiten des Digitalen, um etwas daraus zu entwickeln. Ich kann natürlich auch Schriften auseinandernehmen und neu zusammenbauen oder ich kann Kontraste miteinander mischen oder Kontraste umdrehen und ich kann Dinge miteinander kombinieren, die zuvor mit analogen Werkzeugen so nicht möglich waren. Im Zeitalter der digitalen Möglichkeiten ist Schrift eigentlich nur noch durch unsere Vorstellungskraft limitiert. Sie ist limitiert durch die notwendige Entzifferbarkeit, denn die Leser müssen entziffern können, was ich gestalte. Natürlich gibt es da Unterschiede, ob man beispielsweise Headlines setzt oder Text und das muss den Lesegewohnheiten einer größeren Masse von Menschen entsprechen. Insofern kann ich mit meinen Experimenten, Gedanken und Ideen nicht so sehr von Konventionen abweichen. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass Schrift vom Schreiben kam und sich die Form des Buchstaben die allerlängste Zeit immer auf das Werkzeug bezogen hat. Aber seit 20, 25, 30 Jahren ist in der Schriftgestaltung vieles gestalterisch auserzählt, was sich auf das ursprüngliche Werkzeug berufen würde.
SM
Im Gegensatz zu früher ist es heutzutage sehr einfach geworden Schriften zu erstellen. Im Vergleich zum früheren Bleisatz kann man mit einem Computerprogramm sehr schnell und effizient Schriften erstellen. Hat das Einfluss auf die Qualität der Schriften genommen?
HS
Das ließe sich jetzt so leicht sagen. Die Verfügbarkeit der Mittel und die Verfügbarkeit der Herstellung hat das natürlich einem riesigen Feld an Menschen zugänglich gemacht, denen Schriftgestaltung zuvor nicht zugänglich war als die Werkzeuge nicht zur Verfügung standen. Wenn man früher vielleicht mit dem Schreiben angefangen hat, es dann auf Papier übertragen hat, aber spätestens an dem Punkt vielleicht stecken geblieben ist, als es darum ging, das reproduzierbar zu machen, beispielsweise in Blei- oder Fotosatz oder wie auch immer, also da war die Limitierung der Mittel da. Das hat mit Sicherheit einen Teil der Menschen, die großes Talent dafür gehabt hätten Schrift zu machen, davon abgehalten. Diese Schwelle war so groß, dass sie nur Wenige überschreiten konnten.
SM
Albrecht Dürer hat wohl im Auftrag des Kaisers damals geometrische Schriften oder die Geometrien von Schriften dargestellt. Also das ist wirklich ein Privileg so etwas machen zu dürfen, jemanden zu finden, der das dann finanziert. Heutzutage muss das nicht mehr der Fall sein, man braucht keinen Förderer mehr, um Schriften entwerfen zu können.
HS
Klar, bei deinem Beispiel befinden wir uns in einer Zeit, in der grundlegende Bildung ein Privileg war. Aber gehen wir ins zwanzigste Jahrhundert, Mitteleuropa in den 1960er und 1970er Jahren in Friedenszeiten, in der Bildung in Mitteleuropa grundsätzlich zugänglich war. Selbst da gab es noch diese Schwelle. Du konntest Bildung haben, du konntest Lesen und Schreiben. Der Zugang zu Schrift, dem Schriftverständnis und den Inhalten, das war ja zugänglich. Trotzdem musste es a) irgendwie Leute geben, die das Schriftgestalten unterrichten und b) musste es Leute geben, die sich dafür interessieren. Die mussten zusammenfinden und diejenigen, die Schrift gestaltet haben, mussten in Positionen kommen, durch die diese Schriften dann auch produziert und irgendwann gedruckt werden konnten. Man ging ja ein Risiko ein, wenn man nicht nur einen Entwurf zeichnen ließ, sondern diesen auf Bleisatz übertrug und die Schriften in Blei gießen ließ. Das beschäftigte ganze Gewerke-Gruppen plus Materialkosten, Maschinenkosten und so weiter. Die finanzielle Hürde war sehr hoch, was Anfang der 1990er Jahre mit dem Computerprogramm „Fontographer“ dann komplett kippte. Dadurch konnte ein einzelner Mensch ohne großen Materialaufwand komplette Schriften produzieren, die wiederum so vervielfältigt und verbreitet werden konnten, dass sie der ganzen Welt zugänglich waren. Bezogen auf eine Veränderung der Qualität würde ich sagen, dass einerseits sehr viele qualitativ hochwertige Schriften seitdem pro Jahr produziert werden. Sogar Schriften, die nicht nur qualitativ hochwertig produziert sind, sondern auch noch eine gestalterische Idee haben, die mit Freude von Typografen und Designern aufgegriffen wird und die sozusagen das Feld der Typografie und Schriftgestaltung erweitern. Wir leben heute in einer Zeit, in der wir eine viel höhere Qualität haben als wir sie jemals zuvor hatten. Andererseits ist die Masse natürlich eher an Qualität gesunken. Wenn ich beispielsweise bei „myfonts“ gucke, wie viel Schriften da jeden Tag veröffentlicht werden und wie viel davon Qualität ist, wenn ich nur diese Betrachtungsweise annehme, dann ist die Qualität gesunken. Aber ich finde das ist eine unzureichende Betrachtungsweise, es ist zu kurz gedacht. Es ist besser, wenn die Masse hoch ist und dabei viel Schrott ist, aber dafür auch viel gute Schrift und Qualität in der Schriftgestaltung produziert wird, als dass ich aus Sicht des Typografen mit Times New Roman und Helvetica da sitze und darauf hoffe, dass vielleicht in 5 oder 10 Jahren mal die nächste Thesis produziert wird. Von daher leben wir in einer aufregenden Zeit. Man muss sich durch die Masse wühlen und es ist eine Aufgabe der Typografen und Designer die Qualität zu suchen und auch dem Kunden zu zeigen.
SM
Ich glaube auch, dass das digitale Werkzeug einem die Offenheit dafür gegeben hat. Ich kann viel mehr herumexperimentieren, ich kann versuchen Grenzen zu sprengen, um zu gucken, was überhaupt möglich ist, was überhaupt noch lesbar ist. Also was der Andere gegenüber wahrnehmen kann. Ich habe dir meine These mitgebracht: »Schrift ist Entwicklung.« Was denkst du darüber?
HS
Ja – Punkt. Schrift ist Entwicklung, das ist ganz richtig. Ich fühle mich jetzt nicht in der Lage hier einen kompletten historischen Abriss dazu zu geben, aber am Ende ist es auch eine Beobachtung. Beispielsweise die Schriftfamilie als solche gibt es ja erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dabei gab es schon im frühen 15. Jahrhundert die „Kursive“ als gedruckte Schrift, es gab die „Aufrechte“ als gedruckte Schrift und dann in der „Romain de Roi“ wurden sie zum ersten Mal zusammengeführt, was wohl im 18. Jahrhundert war. Irgendwann kam „Bold“ als Familienelement dazu, das gab es das erste Mal mit einer „Clarendon“, ich glaube im späten 19. Jahrhundert und dabei war die noch nicht mal gestalterisch als Familie gedacht, sondern einfach als fette Auszeichnung eines Schriftentypus, aber sie passt jetzt auch nicht zu 100% dazu. Vom 15. Jahrhundert entwickelt sich die Schrift bis ins frühe 20. Jahrhundert, wo erstmals richtige Schriftfamilien gestalterisch konsistent über Schriftschnitte hinweg entstanden sind. Das ist ja eine sehr langsame Entwicklung, deren Gründe der Langsamkeit man auch historisch begründen kann. Im 20. Jahrhundert sieht man dann diese Beschleunigung, die plötzlich stattfindet. Und im bislang bekannten Teil des 21. Jahrhunderts ist die Geschwindigkeit fast schon erschreckend, wenn man überlegt wie die Kurve weitergehen soll. Bislang wäre es ja so eine Hockeyschläger-Kurve, die immer steiler wird. Daher ist die Frage, ob es irgendwann den Punkt gibt, wo das auserzählt ist? Bestimmte Dinge der Schriftgestaltung sind endlich. Wenn wir uns angucken, dass irgendwann die Groteskschriften, also Schriften ohne Serifen und dann „Slab Serifes“ dazukamen und Schriftfamilien immer größer wurden. Ich glaube, diese Modelle sind auserzählt. Ich glaube, es wird kein neues Schriftmodell als solches im Sinne der lateinischen Schriften mehr geben. Die Kombinationsmöglichkeiten sind da erschöpft. Man kann natürlich solche Bastarde machen, wo das eine mit dem anderen verhakelt wird, es aber nicht dazugehört, was aus meiner Sicht aber kein neues Grundmodell ergibt. Das Spektrum der Varianz und die persönliche Sichtweise eines Schriftgestalters, auf eine bestimmte Art von Schrift oder die eines Unternehmens, können da ausschlaggebend sein. Entweder gestaltet ein Schriftgestalter nach seiner Façon und aus seiner Sozialisierung heraus und aus dem, was er oder sie gut findet oder aus dem, was diese Person gerne sehen würde und gestaltet innerhalb der großen Modelle, ob das jetzt Antiqua, Sans, humanistische Sans, geometrische Sans, bicetera, etc. ist. Oder ein Unternehmen möchte eine bestimmte Erzählung durch eine passende Schrift hervorrufen. Zusammengefasst kann ich sagen, dass die Modelle als solches meines Erachtens nach auserzählt sind, aber es gibt natürlich eine unendliche Varianz zwischen ihnen. Es wird interessant sein zu sehen, ob es irgendwann so feingliedrig wird, dass es keinen Unterschied mehr macht.
SM
Darüber habe ich auch mit Herrn Forssman gesprochen. Er hat nämlich gesagt, dass wir die Zwischenräume zwischen den Klassikern füllen. Das heißt, zwischen einer Times und einer Helvetica zum Beispiel, zwei sehr unterschiedlichen Schriften und dazwischen werden die Zwischenräume immer mehr befüllt.
HS
Ja, das ist richtig. Ich finde es interessant darüber nachzudenken, ob das auch einen gesellschaftlichen Bezug hat. Wenn man davon ausgeht, dass wir in einer immer individualistischeren Gesellschaft leben, hier zumindest in der westlichen Welt, dann darf man natürlich die Frage stellen: Hat das damit zu tun? Oder hat es eigentlich eher damit zu tun, dass schon etwas abgeschlossen ist und die großen Modelle erforscht sind, sodass jetzt quasi die Nuancen dazwischen gefunden werden. Ich glaube, es ist Letzteres. Aber es spielt natürlich der gesellschaftlichen Entwicklung in die Hand. Der individualistischen Gesellschaft, in der Einzelne als Individuen wahrgenommen herausstehen möchten und alles auf sich zugeschnitten haben möchten, was sich dann wieder auf Marken übertragen lässt. Dieses Individualistische lässt sich auf Marken übertragen, weil jede Marke eben nicht nur mit Helvetica daherkommen möchte, sondern mit ihrer Version der Helvetica oder mit ihrer Version einer Mischung aus Helvetica und geometrischer Sans. Das sind so Tendenzen, die sich da gegenseitig in die Hände spielen.
SM
Wie wird sich Schrift zukünftig in Bezug auf Variable-Fonts, 3D-Fonts und ähnliches entwickeln? Wird deiner Meinung nach in diese Richtung noch viel mehr experimentiert und ausprobiert werden oder sind da irgendwo auch die Grenzen erreicht?
HS
Ich glaube, dass alles, was digital ist, sich sehr an „Variable-Fonts“ erfreuen wird. Ich glaube, dass sie wenig Bedeutung für Print haben werden. Bei Animation ist es so eine Sache. Du kannst unendlich viele Varianten einer Schriftfamilie erstellen und es ist die Frage: Welche Eckpunkte beziehungsweise welche Master hast du? Und wie unterschiedlich sind die? Und wie vielfältig sind sie? Je vielfältiger sie sind, desto mehr kannst du dazwischen machen. Wenn du bei Lucas de Groot auf die neue Webseite [https://www.lucasfonts.com/] gehst, die gestern online geschaltet wurde, ist das Logo aus einem „Variable Font“ und animiert sich, wenn du mit der Maus darüber gehst. Wenn es um Animation geht, frage ich mich oft, ob sich das nicht alles auch einfacher mit anderen Techniken machen ließe? Warum muss man da jetzt ein Font nehmen? Ist es dann nur eine Spielerei, dass man diese Art von Animation, von Interaktivität mit Fonts machen kann? Aber ich glaube, dass sich aus diesen Experimenten Rückschlüsse für die Schrift ergeben, selbst wenn diese Spielereien vielleicht ein bisschen sinnlos sind, weil man es mit anderen Animationstechniken oder Programmiertechniken viel besser machen könnte. Ich denke, es werden sich daraus durchaus Rückschlüsse für die Schrift ergeben. Ich glaube jetzt nicht, dass Animation das große Ding sein wird, aber zum Beispiel, dass vor allem große Webseiten zukünftig hauptsächlich mit „Variable Fonts“ betrieben werden, weil die Anpassungsmöglichkeiten, die wir bei „Responsive Webdesign“ haben, damit sich die Webseite auf das Endgerät anpasst, auf dem sie angezeigt wird, den Variable Fonts in die Hände spielt.
SM
Das stimmt auf jeden Fall. Welcher Faktor spielt Zeit in deiner Arbeit als Schriftgestalter?
HS
Ein großer. Ich habe vorher in einer Agentur gearbeitet, wo ich meine Mitarbeiter hatte und jetzt bin ich erstmal alleine und muss alles selber machen. Das macht total viel Spaß, aber es ist auch langsamer. Für Corporate-Projekte habe ich natürlich freie Mitarbeiter, damit man entsprechend der gewünschten Geschwindigkeit des Kunden arbeiten kann. Aber für die eigenen Projekte muss man sich die Zeit trotzdem nehmen. Man muss natürlich selber gucken, dass man sich durch eventuelle ökonomische Zwänge nicht hetzen lässt, aber man muss ja auch die Möglichkeit und die Zeit haben, seine eigenen Schriften in Frage zu stellen und zu kritisieren. Dann gegebenenfalls nochmal zu überarbeiten und das kann natürlich bei einer Schrift, die schon recht weit im Stadium ist, auch nochmal einiges an Zeit bedeuten.
SM
Entwickelt man Schriften am besten in Zusammenarbeit, insbesondere bei verschiedenen Sprachen?
HS
Auf jeden Fall, wobei es beim Lateinischen nicht zutrifft. Ich kann jetzt nicht sagen, dass es da am besten geht. Das ist echt typabhängig. Ich arbeite gerne im Team und ich bin da uneitel genug, sodass ich gute Ideen für meine Schrift dann auch annehmen und umsetzen kann. Aber was die Ausarbeitungen in anderen Skripten bedeutet – ob das jetzt griechisch oder kyrillisch ist oder meinetwegen Devanagari oder sonst was – das kannst du nicht machen, ohne dass du jemanden dabei hast, der zumindest ansatzweise muttersprachlich ist. Das ist bei griechisch und kyrillisch noch erlernbar, aber um so ferner die Kultur des Schriftsystems von der eigenen Sozialisierung ist, desto schwieriger wird es. In meinem Fall wäre das jetzt zum Beispiel Devanagari oder jedes andere asiatische Schriftsystem, das von meiner eigenen Sozialisierung, meinen eigenen Wahrnehmungen, meinen eigenen Schriftwahrnehmungen und meinem Leseverhalten so entfernt ist. Das ist so weit weg, dass ich vielleicht schöne Zeichen gestalten könnte, aber ob diese Zeichen dann irgendeinen Wert als Schrift haben – das würde ich nicht zu beurteilen wagen. Da muss man sich dann schon sehr ausgiebig mit diesem Schriftsystem beschäftigen und da hilft es, dann mit Leuten zusammenzuarbeiten, die Muttersprachler oder Mutterleser sind.
SM
Was würdest du einem jungen Gestalter oder einem Typografen mitgeben?
HS
Also erstmal einfach machen. a) Machen – nicht nur drüber reden, sondern machen, PS auf die Straße bringen. Und ich würde Jedem empfehlen, sich mit der Historie von Schrift, mit der Geschichte von Schrift, der Schriftgeschichte und Gestaltungsschriftgeschichte zu beschäftigen. Und da heraus dann aber den eigenen Weg zu suchen. Ich glaube, dass man in der Freien Kunst durchaus gut daran tut, die Kunstgeschichte zu kennen. Aber die Kunst als solches ist nochmal so viel freier, dass, wenn irgendjemand in der Lage ist aus sich heraus, aus seinem Talent heraus, aus seinen Fähigkeiten heraus Qualität und Neues zu liefern, dann kann das auch komplett losgelöst – ist natürlich nie losgelöst – aber dann kann das viel losgelöster passieren als in der Schriftgestaltung. In der Freien Kunst kann es viel losgelöster passieren, mit viel weniger Rücksicht auf die Schriftgeschichte oder auf die Kunstgeschichte in dem Falle, als wir es in Bezug auf die Schriftgeschichte können. Das liegt einfach daran, dass wir als Designer nicht im rein Künstlerischen, sondern immer auch im Dienstleistungsbereich, beziehungsweise im Informationsbereich arbeiten, also Informationen übermitteln. Das können wir nicht losgelöst von dem, was unsere Gesellschaft mitbringt. Und das ist nun mal die Geschichte und sind die Lasten der Vergangenheit. Ja, ich kann nicht erwarten, dass die Gesellschaft meine Schriftzeichen neu erlernt, sondern da muss ich dann vorangehen.
SM
Ich habe dir die Kernaussage meines „typografischen Manifestes“ einmal mitgebracht:
„Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung an alle, die zweidimensionale Fläche am Monitor zu verlassen, um wieder Schrift haptisch im Raum zu erfahren.“ Was denkst du darüber?
HS
Ich finde das sehr einschränkend. Ich glaube nicht, dass man den Monitor dazu verlassen muss. Ich glaube, den haptischen Bezug erhält man durch das Papier, denn die Schrift hat ja erstmal keinen haptischen Bezug. Nur wenn man den Bleibuchstaben in die Hand nimmt. Also entweder ist es zu allgemein gesprochen, wenn du von Schrift sprichst und in den haptischen Raum zurückkehren willst. Dann müsste man eigentlich sagen: Geh an die Werkbank zurück, lerne Buchstaben in Bleisatz, in Holzproduktion und dann in der Printproduktion, lerne das, nimm das wahr und find das gut – oder find’s auch doof. Aber zu sagen, dass man den Bildschirm dazu verlassen müsse, ist nicht nötig. Ich glaube, eine grundsätzliche Experimentierfreudigkeit und eine grundsätzliche Ausprobiermöglichkeit ist nötig. Das schließt, dieses dann wiederum mit ein zu sagen: Probiere Schrift aus und lerne die Geschichte, aber lass dich davon nicht zu übermannen und zu sehr beeindrucken, dass das alles schon so uralt ist und dass das alles so wahnsinnig tolle Erfindungen sind. Sondern lerne das, triff die Leute, die man dazu noch treffen kann, mach das. Aber wenn jemand sich entscheidet, das alles am Bildschirm zu machen und sich davon begeistern zu lassen und am Bildschirm krasse, mit Processing programmierte Schriftexperimente zu machen, finde ich das mindestens genauso ermutigenswert und wichtig wie das Andere. Also das Eine ist ja auch das Bewahren von etwas Historischem und das Andere ist noch mehr der Blick in die Zukunft oder zu dem, was vielleicht zukünftig kommen oder passieren wird.
SM
Denkst du für so eine Person, die nur im Digitalen gestaltet, wäre es gut, so einen Buchstaben mal haptisch anzufassen oder eher nicht? Oder denkst du, dass das was ganz persönliches ist?
HS
Ich glaube nicht, dass es nötig ist, dass jemand mal einen Bleisatzbuchstaben oder Holzbuchstaben in der Hand gehabt hat. Für jemanden, der am Computer arbeitet, ist es wichtig mal eine Feder in der Hand gehabt oder mit unterschiedlichen Schreibwerkzeugen geschrieben zu haben, um zu verstehen wie Tintenfluss ist, wie sich die Spannung einer Kurve aus dem Halten der Feder, aus dem Winkelgrad, aus der Zuggeschwindigkeit und diesen unterschiedlichen Parametern ein Buchstabe ergibt, um quasi zu verstehen, wo es herkommt. Das hat ja aber an sich nichts Haptisches, das hat ja nichts mit Anfassen von Schrift zu tun, sondern das ist Schriftgestaltung mit anderen Werkzeugen. Das halte ich durchaus für hilfreich. Und ich will das Andere gar nicht kleinreden, denn natürlich ist es schön, mal einen Bleisatzbuchstaben in der Hand gehabt zu haben und selber mal einen Stempel geschnitten oder was auch immer damit gemacht zu haben, aber ich glaube es ist viel entscheidender, dass man mal selbst geschrieben hat.
SM
Das stimmt. Warum entwickelst du neue Schriften und was motiviert dich dabei? Zum Beispiel jetzt gerade bei der „NewsSans“ mit 90 verschiedenen Schnitten?
HS
Naja, die „NewsSans“ ist aus meiner Erfahrung als Typograf heraus entstanden. Ich habe lange Zeit für große Unternehmen gearbeitet, die komplexe Schriftsysteme brauchen. Entweder im Editorial Design für komplexe Zeitschriften oder Informationsbündel, die dann in ein Magazin, Onlinemagazin oder wie auch immer gegossen werden, wo man dem Leser Führung geben muss. Genauso bei Corporate Designs, wo du einerseits etwas Simples gestalten möchtest, damit es eine Wiedererkennbarkeit bekommt, aber niemanden überfordert. Auf der anderen Seite muss es natürlich eine Vielfalt mitbringen und eine Vielfältigkeit haben und die Intention beziehungsweise die Beobachtung zu sagen: Ja, ich gestalte Schriften, die die komplexen Informationsanforderungen von Unternehmen im Editorial etc. möglicherweise mit einer Schriftfamilie abdecken können. Ich gestalte aus meiner Erfahrung als Typograf und als Gestalter heraus Schriften, von denen ich glaube, dass sie wichtig sind. Ich glaube, dass große umfangreiche Schriftfamilien durchaus etwas sind, was benötigt wird, um Typografen gute Werkzeuge zu geben. Diese Erfahrung ist meine Motivation, warum ich Schriften gestalte.
SM
Ja, das stimmt. Super, vielen Dank für das Interview.
HS
Sehr gerne.