Am Mittwoch den 30.10.2019 nahm ich pünktlich den ICE um 05:27 Uhr von Hannover nach Berlin. Während dieser Fahrt schwirrten mir Fragen durch den Kopf wie, welche Art von Menschen werde ich dort treffen? Haben die genauso Interesse an Schrift wie ich? Welche Erfahrung im Setzten von Schrift haben die Mitarbeiter von Erik Spiekermann? Wie wird der Ablauf des Workshops sein?
Um 07:23 Uhr in Berlin angekommen, steuerte ich erstmal ein kleines Café an, um etwas gegen meinen Hunger zu unternehmen. Gut gestärkt begab ich mich auf den Weg zur p98a. Dort angekommen, war ich erstmal sprachlos und dachte, hier, vor dieser Bleisatzwerkstatt hast du schon so oft gestanden und nun betrittst du sie endlich. Sehr euphorisch öffnete ich die Tür und ließ den Raum erstmal auf mich wirken.
SM
Heute spreche ich in der Werkstatt der p98a in Berlin mit einem deutschen Gestalter, Typografen, Schriftgestalter und Autor. Die von ihm entwickelten Schriften FF Meta und ITC Officina werden als moderne Klassiker angesehen. Hallo Erik Spiekermann schön, dass du hier bist, wie geht es dir?
ES
Hallo Sebastian, sehr gut. Ich bin ja hier Zuhause.
SM
Ich habe dir ein Paar Fragen mitgebracht. Würdest du mir ein paar Sätze ergänzen? Als Erstes: Typografie war früher …
ES
ein Handwerk.
SM
… und ist heute?
ES
… ein vergessenes Handwerk.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals …
ES
Meinen Beruf ausüben können.
SM
Und welches Buch hat Dich zuletzt begeistert?
ES
Zuletzt hat mich eine Reihe begeistert, die wir für einen Verlag gestaltet haben. Es ist eine Reihe der romantischen Literatur, die ich noch aus der Schule kannte, aber es sind ganz viele Geschichten dabei, die ich nicht mehr wusste. In dem Rahmen haben wir eine neue Reihe für einen Verlag gestaltet und produziert, der bei uns Untermieter ist. Dabei habe ich viele alte Sachen wiedergefunden, die ich seit der Schulzeit nicht mehr gelesen hatte und Neues entdeckt. Das ist das Privileg, wenn man Bücher gestaltet, dass man sie vorher lesen muss, zumindest sollte man das. Ich lese sie vorher immer und lerne auf diese Weise Sachen kennen, die ich schon wieder vergessen oder noch nie gesehen habe. In diesem Fall waren es diese drei Bände der „Handlichen Bibliothek der Romantik“. Es werden insgesamt fünfzehn Bände und die ersten drei sind seit ein paar Tagen fertig. Zwischendurch habe ich mich beim Setzen festgelesen, was ja vorkommt. Man setzt und liest gleichzeitig oder muss vorher lesen. Und ich habe beides gemacht: sowohl vorher gelesen als auch währenddessen darin gelesen und es hat mir Spaß gemacht.
SM
Was bedeutet Schrift für dich?
ES
Für alles sichtbare Sprache.
SM
Um zu sehen, was dich in dieser Druckerei, der Galerie p98a so antreibt, habe ich mir euer Leitbild angesehen. Es lautet: Erhalt durch Produktion. Wie kam es dazu?
ES
Ich hatte früher schon mal eine Druckerei und habe das Drucken gelernt. Es gibt zwei Gründe, warum ich mich wieder dafür interessiere: einerseits wollte ich bereits vor vierzig Jahren als Drucker und Setzer arbeiten, was aber nicht funktionierte. Jetzt kamen zwei Dinge zusammen. Zum Einen dieser nicht zu Ende gedachte Lebensplan, den ich nach meinem offiziellen Ausstieg aus dem Designgeschäft vor etwa fünf Jahren wieder aufgenommen habe. Und Zweitens hat sich zu der Zeit sowieso die ganze Szene des Letterpress-/ Buchdruck und des Handsatzes wieder entwickelt. Das hat den Hauptgrund, dass alles, was wir heute als Gestalter machen, nicht anzufassen ist. Wir arbeiten nur noch virtuell auf Bildschirmen und es ist zwar toll, dass man dadurch unglaubliche Möglichkeiten hat, aber es ist immer gleich weg, wenn man es gemacht hat. Selbst wenn man Bücher gestaltet, ist es so. Dadurch ist die ganze Arbeit sehr unsexy geworden. Und das In-die-Hand-Nehmen und Begreifen fehlt dann auch. Deswegen heißt es im Deutschen ja auch be-greifen. Damit zu arbeiten ist eine wichtige Tätigkeit, die – gerade wenn man Gestalter ist – auch nochmal zeigt, wo der Beruf herkommt. Woher alles kommt. Der Raum zwischen den Zeilen, zwischen den Wörtern ist zu füllen, was wir hier ja auch mit Blei oder Metall, im manuellen Drucksatz machen. Ich habe mich umgeschaut und es gibt da eine ganze Menge Museen und Einrichtungen für den Buchdruck. Wie ich gerade höre, auch eines in Hannover. Aber in den meisten ist um die Geräte, Schriftgassen, Druckmaschinen und Setzanlagen eine rote Kordel und ein Schild wo drauf steht: »Bitte nicht berühren«. Das heißt, dass man es angucken kann, aber nicht weiß, wie es funktioniert. Denn man muss es ja probieren. Das ist, als wenn man Brot ins Schaufenster legt, aber nicht davon abbeißen darf. Das ist ja völlig blödsinnig. Deswegen habe ich Geräte im Laufe der Zeit angesammelt, nicht um sie auszustellen, sondern um damit zu arbeiten. Wir können damit nur arbeiten, wenn wir echte Sachen produzieren. Dann weiß man, wie es früher war. Wir werden hier sicherlich keine Bücher mehr in großen Auflagen drucken und schon gar keine Zeitung, aber wir müssen die Produktionsgegenstände, die Schrift, die Maschinen und alles benutzen, um sie zu verstehen und auch zu erhalten. Denn wenn ich damit eventuell sogar ein bisschen Geld verdiene, was wir hier mit einigen Buchdruck-Büchern auch tun, dann werden sie erhalten. Das Wichtigste ist daran, dass die Fähigkeiten erhalten bleiben. Denn niemand lernt mehr Buchdruck, keiner wird mehr Schriftsetzer. Es gibt eine letzte Generation von Schriftsetzern, die jetzt schon um die fünfzig Jahre alt ist. Das sind diejenigen, die bis Ende der 1980er Jahre noch in der DDR gelernt haben. Im Westen gibt es diese Ausbildung schon lange nicht mehr. Dieses Wissen muss weitergegeben werden. Das Gleiche gilt für Buchdrucker, die es schon viel länger nicht mehr gibt. Aber es gibt ja noch Leute, die drucken können und dafür ein Händchen haben. Beim Beruf des Buchbinders ist es ähnlich. Eigentlich sterben diese Berufe alle aus. Wir versuchen hier im Kleinen Leute zu finden, die diese Fähigkeiten haben und sie auch gerne an junge Leute weitergeben, wie dich zum Beispiel. Und das kann man nur, wenn man damit richtig arbeitet und nicht irgendwelche fiktiven Unikate macht, sondern auch mal eine Auflage und auch vielleicht mal einen Tag lang am Tiegel steht und sich vielleicht etwas langweilt, weil das halt in Routinearbeit ausartet. Aber wenn man die Routine hat, dann lernt man es auch.
SM
Wie beeinflusst dich die Materialität im Gestaltungsprozess?
ES
Grundsätzlich begreift man das, was man anfasst, mehr. Es entstehen Sachen aus dem Anfassen, aus dem Rummachen. Die entstehen immer deswegen, weil es viel weniger Möglichkeiten gibt, wenn ich etwas aus Blei oder Holz setze. Dabei habe ich nicht hunderttausend Schriften in allen Größen. Ich habe dann vielleicht zwei Schriften in einer Größe. Bei großen Schriften kann es sogar vorkommen, dass nicht genügend Buchstaben da sind. Dann muss ich den Text ändern. Wir haben hier zum Beispiel ein Plakat gemacht, das wir schon fünfmal nachgedruckt haben. Der Plakattext lautete „Better done than perfect“, was ich in einer sehr großen Holzschrift angefangen habe zu setzen. Der Text hat jedoch fünf Mal den Buchstaben „e“, aber ich hatte nur vier Holzbuchstaben zur Verfügung, sodass wir dann bei dem Wort „prfect“ ein „e“ weggelassen haben, sodass es wie ein Witz wirkte, was es aber nicht war, denn es war nicht so geplant. So etwas passiert natürlich nicht, wenn ich auf meinem Bildschirm mit Adobe Cloud 24.000 Schriften habe und 16,7 Millionen Farben. Da habe ich sogar eher das Problem, dass es zu viel ist und ich mache es mir im Grunde genommen einfach, wenn ich es reduziere. Die meisten Gescheiten haben sowieso ein reduziertes Repertoire, weil sie sich gar nicht damit auseinander setzen wollen, aber hier ist es zwangsläufig so. Dazu kommt, dass ich auch schnell fertig sein will, wenn ich mit dem Material arbeite. Ich versuche also Layouts und Seiten zu bauen, die relativ einfach sind – mit großen oder eindeutigen Abständen, damit es nicht zu lange dauert. Am Computer lassen sich kleinteiligere Layouts schnell automatisiert umsetzen. Aber diese Notwendigkeit schnell zu sein, entsteht auf der einen Seite durch Faulheit, aber auch durch Termindruck. Denn ich muss abends fertig sein und noch aufräumen, bevor ich gehe. Die Abwesenheit von zu viel Material bringt Ergebnisse, die dahingehend schlüssig sind. Als Beispiel komme ich wieder zum Essen zurück, zu normalem Schwarzbrot, in dem immer ein bisschen Weizen oder Roggen, Hefe, Wasser, Zucker und Eier sind, nur fünf Zutaten. Wenn man damit richtig umgeht und den richtigen Ofen hat, schmeckt es immer. Wenn man jetzt aber anfängt, da sehr viele weitere Zutaten zuzufügen, kriegt man Schnickschnack. Das ist zwar ganz schön zum Nachtisch, aber nicht zum Essen. Ich stelle hier also visuelle Nahrung her, die herzhaft und ehrlich ist und nicht irgendwelche Konditoreien, von denen einem eher schlecht wird, weil sie überzuckert sind.
SM
Ich habe dir eine These aus meinem typografischen Manifest mitgebracht, welches ich gerade in meiner Bachelorarbeit bearbeite und zwar: »Schrift ist Kultur.«
ES
Ja, das stimmt zwangsläufig. Denn ohne Schrift gibt es keine Kultur. Wenn wir von Kultur reden, reden wir ja von Gegenständen die für den geistigen Gebrauch, also Gedanken, Thesen, Überlegungen, die wir nur weitergeben, wenn wir sie verschriftlichen können. Von Hand schreiben kann man auch, aber wir wissen, die Reformation hätte nicht stattgefunden, hätte es Gutenberg nicht 100 Jahre vor Luther bereits gegeben. Dann hätte er mit seinen 95 Thesen in Wittenberg alt werden können. Wenn sie handgeschrieben gewesen wären, hätte Luther niemanden dafür interessieren können. Aber so waren sie innerhalb von zwei Wochen im Reich verbreitet, was damals in Zeiten von Pferdekarren und Ochsen nicht einfach war. Trotzdem hat der Papst es nach ein paar Wochen mitgekriegt, woraufhin die Revolution, die Reformation erst richtig losging. Das gesamte Wissen der Menschen wäre, wenn wir es nur mündlich weitergeben würden, erstens schwierig und zweitens auch mal unscharf. Denn das Wissen verändert sich ja bei jedem Erzählen, was schön ist, aber dem Wissen nicht dient. Und wenn man Wissen schriftlich festhält, dann ist es festgehalten. Dann kann man sich daran abarbeiten, kann dagegen sein, dafür sein, kann es überprüfen. In dem Zitat aus Goethes „Faust“ heißt es: „Wenn es Schwarz auf Weiß ist, kann man es getrost nach Hause tragen.“
SM
Ich bin jüngstes Mitglied im Buchdruck Museum bei uns in Hannover und würde dich gern fragen, warum wir die Kultur des Buchdrucks bewahren sollten.
ES
Erstens ist der Buchdruck eine deutsche Erfindung. Gutenberg hat zwar nicht als Erster gedruckt, aber als erster mit beweglichen Buchstaben – die man nachgießen konnte – die es also theoretisch in unendlichen Mengen gab, gearbeitet. Damit konnte man ganze Bücher drucken und nicht nur einzelne Seiten. Die Revolution, die davon ausgegangen ist, kennen wir natürlich alle. Wir sind es sozusagen unserem Erbe schuldig, dass wir das erhalten, denn hier hat man es erfunden, hier hat man es zu einer Blüte gebracht. Die deutschen Druckmaschinenhersteller sind auch immer noch Marktführer, wobei es nur noch wenige gibt. Früher waren die deutschen Schrifthersteller, die Satzmaschinenhersteller, immer weltführend, einfach weil es diese Tradition gab, auch von Schriftgestaltern. Es ist als Industrieland nicht ganz unwichtig, dass man solche industriellen und handwerklichen Fähigkeiten erhält. Wir haben hier eine große Geschichte und auch entsprechende Museen, wir haben die Fertigkeiten, Überlieferungen, Handwerks- und Gewerbe-Ordnung. Also eigentlich wissen wir, wie das alles geht. Es wäre eine Schande, dies zu vernachlässigen. Ich finde wir haben diese Pflicht zumindest in Deutschland die Geschichte hochzuhalten – das Handwerk zu erhalten – weil damit eben auch die geistigen Fähigkeiten einhergehen. Wenn man sich mit Schrift beschäftigt, muss man lesen. Und wer lesen kann, erschafft auch Wissen. Die Setzer haben von sich immer behauptet, der gehobenste aller Stände zu sein, weil sie das, was sie setzten, auch gelesen haben. Daher konnten sie alle Sprachen, wie lateinisch und griechisch und so weiter. Das ist eine Überlieferung, die sich lohnt beizubehalten.
SM
Sollte es Teil in der Ausbildung zum Beispiel in einem Designstudium sein?
ES
Ja, ironischerweise fängt es gerade ja wieder an. In der großen Euphorie des Desktop-Publishing in den späten 1990er Jahren, als alles mit dem Computer gemacht wurde, hat man unglaublich viele alte Bleischriften weggeschmissen und eingeschmolzen. Weil sie schwer und kaum zu bewegen sind und man Platz für die Computer und auch das Geld brauchte. Dadurch waren auch die Leute, die damit gearbeitet haben, weg. Zwanzig Jahre später, vor vielleicht zehn Jahren fing man plötzlich an zu überlegen, dass man sich nur mit dem Wischen auf Glasscheiben beschäftigt und wir nicht mehr begreifen, was wir da eigentlich machen. Wir haben kein Verhältnis mehr zur Dreidimensionalität, zum richtigen Leben. Und jetzt fangen die Schulen wieder an, sich unter anderem bei mir Maschinen und Schriften auszuleihen. Sie haben den Wert des Herstellens mit dreidimensionalen Gegenständen, die man dann druckt, bemerkt. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Eine Schrift, eine Satzform, ist ja ein dreidimensionaler Gegenstand und wenn man ihn nicht druckt, kann man ihn anfassen und lesen, auch wenn es seitenverkehrt ist. Die Schulen haben gemerkt, dass es zum Verständnis des Rhythmus einer Seite und der Elemente, die man braucht, wichtig ist. Dabei wird auch der nichtdruckende Raum angefasst. Das ist ja nicht weiß, das ist ja Metall oder Holz oder irgendwas. Es hat nichts mit Nostalgie zu tun, sondern wirklich mit dem Begreifen von Rhythmus, Seitenaufbau und Zeilenfall und diesen ganzen handwerklichen Geschichten. Und deswegen ist es eine Bewegung deutscher Hochschulen entweder zu erhalten, was sie an Setzerei noch haben, oder sogar – wie ich hier gerade bei vielen privaten Hochschulen beobachten kann – überhaupt damit anzufangen, weil die Studenten es wollen. Dass die heutigen Studenten wieder Letterpress machen wollen, ist natürlich eine tolle Bewegung. Es gibt nur leider nicht mehr viel Zeugs.
SM
Herr Forssman, den ich gestern getroffen habe, gab mir den Rat, mich mit dem historischen Hintergrund meines Fachs intensiv zu beschäftigen. Wie siehst du das?
ES
Ja. In den 500 Jahren seit Gutenberg hat sich die Druckkunst und damit die Typografie, die ja miteinander verbunden sind, stark entwickelt. Die Fortschritte in der Schriftgestaltung kamen immer auch von technischen Fortschritten. In Kupfer konnte man feinere Schriften schneiden als in Blei. Und heute kann man mit dem Computer noch feinere Schriften und andere Sachen machen. Es ist alles miteinander verbunden. Wenn man sich der Geschichte zuwendet, dann findet man heraus, warum es so geworden ist, wie es ist. Es war ja nicht so, dass einer aufgewacht ist und hat gesagt, ah, jetzt mache ich mal einen Kupferstich. Das hat sich im Laufe der Zeit so entwickelt. Als die Lithographie erfunden wurde, konnte man mit dem Pinsel Schriften machen. Da sah die Schrift natürlich anders aus, als wenn sie Bodoni in hartes Metall gravieren musste. Und wenn man sich damit beschäftigt, dann versteht und begreift man das. Genauso gibt es beim Computer noch Sachzwänge. Vor zwanzig Jahren war noch alles stark verpixelt. Die Technik hat den Buchdruck und die Typografie viel stärker beeinflusst als wir dachten und die Geschichte der Typografie ist auch eine Geschichte der Kultur. Wie viel haben wir gedruckt? Was haben wir gedruckt? Was wurde verboten? Wo wird heute noch was verboten? Wie haben sich Leute beholfen, wenn es verboten war? Beispielsweise heimliche, illegale Kellerdruckereien, ob bei den Nazis oder während der russischen Revolution oder sonst wo. Wie haben die mit ihren primitiven Mitteln im Bauhaus zum Beispiel Typografie gemacht? Je mehr man darüber lernt, desto mehr lernt man darüber, warum Sachen so aussehen, wie sie aussehen.
SM
Mit deinem Unternehmen FontShop bist du in die digitale Schriftkultur eingestiegen. Wie war es damals für dich?
ES
Naja, das hat sich so ergeben, weil ich Ende der 1980er Jahre ziemlich viel in den Staaten unterwegs war. Ich hatte schon sehr früh einen Macintosh, was in Deutschland etwas später angefangen hat, daher haben meine Kollegen hier immer gesagt, dass ich immer tolle Schriften hätte, denn es gab damals ja nur wenige, vielleicht ein paar 100 Schriften. Die habe ich noch auf großen Disketten mitgeschleppt und habe verschiedenen Leuten so Schriften mitgebracht. Irgendwann war ich es dann leid, den Leuten Disketten ins Land zu schmuggeln und habe ein offizielles Geschäft daraus gemacht. Und weil ich die Schrifthersteller alle kannte – es waren ja nur fünf –, habe ich einen Betrieb aufgemacht, im Keller von MetaDesign, einem Laden in Schöneberg. Ich habe ja damals von vier oder fünf Herstellern von jeder Schrift zwei Stück zukommen lassen, eine für PC, eine für Mac. Die Schriften habe ich in den Keller gelegt und am nächsten Morgen Anzeigen in ein, zwei Blättern geschaltet, so wie „Page“ und „Desktop-Publishing“. Leute, die die Schriften haben wollten, mussten uns schreiben und dann haben wir ihnen die Disketten geschickt. So hat das angefangen. Es gab keine feste Person dafür, es war nebenher und dann ist es natürlich gewachsen, weil die Szene gewachsen ist. Aus dem Verschicken von Disketten wurde mit der Zeit ein Verschicken von CD-ROMs und dann Versenden von Daten, wie es heute ist. Damals hat man noch in einem Katalog geguckt und bei uns angerufen, um Schrift Nummer sowieso zu bestellen und den Preis zu erfragen. Das war auch relativ teuer. Dann hat man am nächsten Morgen direkt eine Diskette gekriegt. Später ging auch das Bestellen online.
SM
Passend dazu habe ich dir aus der hannoverschen Druckerei Hahn ein Schriftenmusterbuch von früher mitgebracht. Dort gab es nur diese Schriften, die es in der Druckerei gab, sodass ich mich gefragt habe, welche ich gerne hätte. Alles andere würde dann komplett wegfallen…
ES
Die haben auch alles bei Berthold gekauft, wie ich hier sehe. Ah, sie hatten sogar eine Monotype. Schön. Bei uns war es ja ähnlich. Der erste Katalog von FontShop erschien 1985 oder 1990. Es war ein schmales Heft, so 10 x 29 cm und da waren damals vielleicht 400-500 Schriften drin, wenn es hochkommt, vielleicht sogar noch weniger. Das klingt jetzt für heute wenig, allerdings wurden sie ja als Fotosatz hergestellt. Und auch Berthold hatte zur besten Zeit nur 800 Schriften – das war unglaublich viel für die damalige Zeit. So eine normale Druckerei hatte vielleicht 40 oder 50, allerdings mussten die auch jeden Grad extra haben. Während man die Berthold beim Fotosatz von 60 – 20 Punkt setzen konnte und später 6 – 36 Punkt setzen mit einem Original, was immerhin damals 800,- Mark kostete. Das war ein Monatslohn. Und eine Anlage kostete so 120.000,- Mark. Da konnte man damals sechs oder sieben VW Golf’s für kaufen. Das hat so unglaublich viel Geld gekostet. Heute für so einen Font zwischen 10,- bis 20,- Euro zu bezahlen, ist dagegen ein Witz. Das ist für Studenten immer noch viel Geld, aber für uns ist das lächerlich. Es hat sich dadurch auch ein bisschen entwertet, man geht damit auch nicht mehr so sorgfältig um, weil morgen gibt’s den nächsten. Es sind ja auch nur Daten, die scheinbar nicht kaputtgehen. Außerdem haben alle Studenten sowieso alle Schriften, weil alle klauen und tauschen wie die Raben. Mir haben meine Studenten immer meine Schriften angeboten. Da habe ich geantwortet, dass ich sie schon habe, weil ich sie selber gemacht habe.
SM
Was würdest du einem jungen Gestalter oder Typografen mitgeben?
ES
Mitgeben? Ein Typometer. Nein, was ich allen Leuten mitgebe, ist der Rat, neugierig zu sein und zu lernen. Du hast es ja gerade schon angedeutet: Es ist alles schon Mal gemacht worden. Und je mehr man weiß, wer, wann, was, wie gemacht hat und auch in alten Büchern rumschnüffelt, entdeckt man plötzlich, dass das, was man heute als toll und neu sieht, auch schon mal da war. Und dass die Problemchen immer die gleichen sind: man muss die Botschaft an einen Mann oder eine Frau bringen. Das ist medienspezifisch in einer Anzeige anders als auf einem Plakat oder in einer kleinen Broschüre. Wenn man zum Beispiel Formulare und Fahrpläne macht, ist es ein anderes Thema, als wenn man große Werbeflächen, Anzeige oder doppelte Werbeseiten in Zeitungen macht. Aber wichtig ist, dass gute zukünftige Typografen sich mit Sprache beschäftigen. Sie müssen wissen, was Sprache ist, müssen mit Sprache umgehen können, denn sie müssen sie ja visualisieren. Für alles gilt es als allgemeines Rezept so viel zu lernen, wie es geht. Sich so viel anzugucken wie möglich, so viele Bücher zu lesen, wie es geht, sowie sich alte Druckerzeugnisse anzugucken. Wenn man dann soweit ist und richtig gestalterisch arbeitet, ist es wahnsinnig wichtig, dass man Sachen ausprobiert und auch was falsch macht. Ich finde es schlimm, wenn ich hier 13-Jährige sehe, die schon drei Lieblingsschriften haben. Ich habe auch drei Lieblingsschriften oder besser 30. Aber wenn sie in dem Alter sagen, dass sie nur eine bestimmte Schrift nehmen, die gerade in Mode ist und man sie fragt, warum sie nur genau diese Schrift nehmen, dann können sie nur antworten, dass sie sie gut finden. Das reicht mir nicht. Man muss lernen, ausprobieren und auch handwerklich arbeiten, das finde ich wichtig. Aber das gilt für jeden Beruf. Einem Schuhmacher würde ich es genauso empfehlen wie dem Bäcker. Das ist nicht spezifisch für unseren Beruf, es ist hier nur anstrengender, weil unser Beruf mit geistiger Tätigkeit zu tun hat. Man muss von Morgens bis Abends lesen. Ich habe hier eine große Anzahl von Büchern und Zuhause noch mal weitere 6.000, fast nur typografische Titel. Die habe ich zwar nicht alle gelesen oder gar auswendig gelernt, aber man entdeckt immer wieder etwas darin und wenn jemand herkommt und im Bücherschrank wühlt, findet er immer wieder Sachen, die ich noch selber nicht gesehen habe. Es lohnt sich zum Beispiel in ein Museum für Buchdruck zu gehen und dort durch die Bibliothek durchzusehen. Man findet so unglaublich viel Zeug.
SM
Wir haben auch eine eigene Schriftenbibliothek bei uns. Ich bin autodidaktisch unterwegs seit ich 12 Jahre alt bin. Dabei habe ich gemerkt, dass ich so viel Wissen aus Büchern ziehen kann. Gestern bei Herrn Forssman habe ich auch noch mal verschiedene Bücher gesehen. Neulich habe ich Eugen Nerdingers „Das Buchstabenbuch“ als Erstauflage im Antiquariat erworben, das ist äußerst interessant.
ES
Gibt’s das noch? Glück gehabt.
SM
Ich würde gern die Kernaussage meines Manifestes mit dir diskutieren: „Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung an alle, die zweidimensionale Fläche am Monitor zu verlassen, um wieder Schrift im Raum zu erfahren.“
ES
Ich finde das Wort „Raum“ ein bisschen problematisch, weil es an Leitsysteme an Wänden und in Räumen denken lässt. Ich habe da gerade den Namen Andreas Uebele in deinen Notizen gesehen, der sich mit Leitsystemen beschäftigt. Aber ich weiß, was du mit dem Begriff Raum meinst. Doch das Wort ist bei uns dummerweise schon für Leitsysteme besetzt. Du meinst die physische Dimension, mit den Händen, haptisch und in echt Typografie zu erfahren. Ich würde da schauen, ob es eine bessere Formulierung als „im Raum“ gibt. Letztlich bedeutet deine Formulierung im Raum am Ende doch nur Schrift an den Wänden, aber du meinst ein Anfassen. Abgesehen von der Formulierung hast du Recht, ich unterschreibe das sofort. Es ist ja ironisch, dass viele denken, man könnte am Bildschirm dreidimensional arbeiten, aber der Bildschirm ist immer flach. Man kann zwar Perspektive vortäuschen wie im Foto, aber es ist flach. Mir kann keiner erzählen, dass der Bildschirm dreidimensional wäre, man kann ja nicht hineingreifen. Leute, die teilweise schon seit 10 oder 20 Jahren beispielsweise als Font Encoder digital arbeiten, sind in den Workshops hier immer von den Socken. Plötzlich begreifen sie, woher etwas kommt. Vor vielen Jahren waren ein paar Amerikaner hier, denen ich gezeigt habe, wie man mit den alten Stegen arbeitet. Ich habe ihnen gezeigt, wie einfach es ist mit möglichst großen Stegen zu arbeiten und das diese in Cicero oder sogar in Konkordanz gemessen werden. Da waren sie ganz erstaunt, darin ein Grid, ein Raster zu erkennen. Dabei gibt es die Raster schon sehr lange, bereits seit 500 Jahren. Je einfacher das Raster ist, desto einfacher und schneller ist die Arbeit. Ich arbeite doch nicht mit 150 verschiedenen Maßen. So ist ihnen aufgefallen, dass man Disziplin braucht, auch heute beim Aufbau von Webseiten. Je mehr unterschiedliche Maße ich miteinander mische, desto schlechter und unordentlicher sieht es aus und niemand kann es verstehen. Diese Disziplin lässt sich hier im Metall viel leichter nachbiegen, weil es schneller geht. Dabei versteht sich von selbst, dass man bestimmte Größen miteinander kombiniert, um einen gemeinsamen Nenner zu bekommen. Ich arbeite immer mit einem möglichst großen gemeinsamen Nenner. Das ist wie beim Bauen einer Mauer, denn mit Kieselsteinen zu mauern ist ziemlich umständlich, während es mit Backsteinen einfach geht, da alle gleich groß sind und man sie gut versetzen oder auch mal einen halben Stein nehmen kann. Aus solchen Beispielen aus der physischen Welt kann man lernen, wie man einen rohen Teig macht oder eine Sohle anklebt, einen Nagel in die Wand haut. Da sich das Material zu einem erheblichen Teil selber gestaltet. Wenn man davon leben muss, sollten Aufwand und Zeit in einem Verhältnis stehen. Wenn ich für eine Gestaltung die ganze Nacht oder 5 Stunden brauche, bekomme ich dafür 100,- Mark, aber wenn ich das selbe in einer Stunde gestalte, kriege ich auch 100,- Mark. Der Stundenlohn beträgt einmal 20,- und einmal 100,- Mark. Also mache ich möglichst nur eine Stunde. Daher habe ich beim Setzen von Briefbögen immer alles nach oben und in einen Block gesetzt. In Deutschland war es ja üblich, dass man oben den Absender und den Adressaten hatte und unten rechts die Bankverbindung und solche Dinge, was eine unglaubliche Arbeit verursachte. Dabei müssen diese Angaben gar nicht auf dem Briefbogen sein, sondern auf der Rechnung. Also habe ich es oben in einem Block gesetzt, was viel einfacher zu setzen und drucken war, weil man nicht die gesamte Fläche des A4-Formats, von oben bis unten, mit Material füllen musste. Das dauert nämlich. Und obwohl mein Blocksatz bei Briefbögen keine Gestaltungsidee von mir war, sondern einfach praktisch und schneller, fanden alle meine Gestaltungen so cool. Wenn man trotzdem um 5 oder 6 Uhr nach Hause gehen will, lernt man, rechtzeitig mit der Arbeit aufzuhören, weil man dann noch sauber machen muss. Das macht man heute bei Gestaltungen am Computer nicht mehr, man schaltet einfach aus. Aber wenn man es wie ich richtig macht, räumt man vorher auch am Computer seinen Schreibtisch auf, bevor man nach Hause geht. Denn man muss ja am nächsten Morgen einen sauberen Schreibtisch vorfinden. Die Leute sind hier immer ganz überrascht, wenn ich sage, dass sie um 5 Uhr aufhören sollen zu drucken, wenn sie um 6 Uhr gehen wollen. Auch wenn ich da vielleicht etwas altmodisch klinge, ist das auch Disziplin. Es gibt einem ein anderes Verhältnis zur Arbeit und zu den Elementen, mit denen man arbeitet, dass sie nämlich wertvoll sind. Das Aufräumen, das Hinterlassen des Arbeitsplatzes, egal ob es jetzt der Bildschirm oder die Setzerei ist, gehören auch zur Arbeit dazu und man geht nicht einfach weg. Jeder Arbeiter macht nach der Arbeit sauber. Wenn ein Schuhmacher seine Leimtöpfe nicht zumacht, sind sie morgens trocken. Also muss er seinen Tag aufräumen und seine Lederspindeln und Nägel einsortieren, sonst kann er morgen nicht normal beginnen. An manchen Arbeitsplätzen arbeitet am nächsten Tag vielleicht auch ein Anderer. Diese Disziplin miteinander umzugehen, hat man in der Druckwerkstatt stärker als am Bildschirm, wo man teilweise nur isoliert rumsitzt. Am Computer ist man auch alleine mit der Angst von so vielen Ideen und Möglichkeiten, die man hat, überfordert zu werden. Dann bin ich ganz froh, wenn ich an meinen manuellen Kasten gehe, wo ich nur 10pt oder 12pt habe.
SM
In dem Buch „Material“ von Andreas Uebele, welches du wahrscheinlich auch kennst, habe ich ein Zitat gefunden, was er Studenten weitergibt: „Haltung, Handwerk und Heulen.“
ES
(lacht) Ja, der ist ja ein grober Schwabe, ein lustiger Vogel.
SM
Ich finde die Frage interessant, ob man durch den Buchdruck und die Schriftkultur einem Gestalter eine Haltung beibringen kann?
ES
Ja, ich glaube schon. Zumindest eine Haltung im Umgang mit dem Material. Die Haltung, dass das Material wertvoll ist und dass es effektiver ist, wenn man mit wenigen Mitteln arbeitet und nicht alles auf einmal macht, nicht 47 Ideen gleichzeitig hat. Wenn man sein Arbeitszeug ordentlich behandelt, ist es ja auch eine Haltung. Dann behandelt man vielleicht auch Leute ordentlich. Alles herumliegen zu lassen und schlampig zu sein, ist so eine Grobheit, die ich auch im Zwischenmenschlichen sehe. Beispielsweise im Straßenverkehr fährt heute jeder bei Rot über die Ampel. Das weiß ich als Fahrradfahrer. Wenn ich weiß, dass sie bei Rot nicht unbedingt halten, dann kann ich mich nicht auf mein Grün verlassen. Ich glaube, es hat alles miteinander zu tun. Diese Entfernung von der eigentlichen Welt, das virtuelle Leben dieser Handyzombies oder Smartphone-Zombies, die herumlaufen. Bei all den Leuten, die mit Kopfhörern aus der U-Bahn kommen und nur auf ihr Handy glotzen, während sie über die Straße rennen, verstehe ich nicht, warum die keinen Überlebenswillen mehr haben. Auch all diese Rollerfahrer werden irgendwann eines gewaltsamen Todes sterben und dann hat die Evolution gesiegt. Menschen, die sich so verhalten, leben auch nicht im Sinne eines Teilnehmens am Leben. Warum wohnen sie in der Stadt, wenn sie mit Kopfhörern und Handydisplay von allem abgeschirmt sind? Sie nehmen gar nichts war, wissen nicht wo sie sind. Da muss man nicht in Berlin wohnen, da kann man sonst wo hingehen, wo die Mieten nichts kosten, Cottbus oder Duisburg vielleicht. Zu dieser Entwicklung gehört auch mit Nachbarn oder in der U-Bahn nicht mehr miteinander zu reden oder sich anzugucken, weil dieses vereinzelte Starren auf die Bildschirme ein sehr, sehr asoziales Verhalten ist. Das wird immer schlimmer. Aber dieses asoziale Verhalten kann man in der gemeinsamen Arbeit wieder verlernen. Wenn du zu zweit oder zu dritt arbeitest, musst du miteinander reden. Man muss sich absprechen und fragen kannst du mal dies oder das machen, hast du mal das, reich mir doch mal etwas oder geh mal weg oder komm mal her, heb mal mit an. Allein das sind soziale Fähigkeiten, die wir gerade verlernen. Wir sitzen entweder im Auto und brettern an anderen vorbei über die Straßen oder wir glotzen auf die Bildschirme und meistens alles gleichzeitig. Im Auto glotzen sie nun auch schon auf den Bildschirm. Ich will jetzt nicht wie ein Bilderstürmer klingen, denn ich habe ja selber viele Bildschirme. Ich war der erste deutsche Grafiker, der 1985 einen Macintosh gekauft hat. Ich bin wirklich kein Bilderstürmer, ich kann auch programmieren, aber ich sehe inzwischen stark die sozialen Probleme, die durch die Vereinzelung kommen. Vor allem, dass man das auf den Bildschirmen für die Welt hält – das ist nicht die Welt, das ist ein Bild von der Welt und das ist sehr, sehr unscharf und falsch.
SM
Super, vielen Dank für das Interview.
ES
Immer gerne.
Lesezeit: 00:34:12
Erik Spierkermann, p98a in Berlin
Am Mittwoch den 30.10.2019 nahm ich pünktlich den ICE um 05:27 Uhr von Hannover nach Berlin. Während dieser Fahrt schwirrten mir Fragen durch den Kopf wie, welche Art von Menschen werde ich dort treffen? Haben die genauso Interesse an Schrift wie ich? Welche Erfahrung im Setzten von Schrift haben die Mitarbeiter von Erik Spiekermann? Wie wird der Ablauf des Workshops sein?
Um 07:23 Uhr in Berlin angekommen, steuerte ich erstmal ein kleines Café an, um etwas gegen meinen Hunger zu unternehmen. Gut gestärkt begab ich mich auf den Weg zur p98a. Dort angekommen, war ich erstmal sprachlos und dachte, hier, vor dieser Bleisatzwerkstatt hast du schon so oft gestanden und nun betrittst du sie endlich. Sehr euphorisch öffnete ich die Tür und ließ den Raum erstmal auf mich wirken.
SM
Heute spreche ich in der Werkstatt der p98a in Berlin mit einem deutschen Gestalter, Typografen, Schriftgestalter und Autor. Die von ihm entwickelten Schriften FF Meta und ITC Officina werden als moderne Klassiker angesehen. Hallo Erik Spiekermann schön, dass du hier bist, wie geht es dir?
ES
Hallo Sebastian, sehr gut. Ich bin ja hier Zuhause.
SM
Ich habe dir ein Paar Fragen mitgebracht. Würdest du mir ein paar Sätze ergänzen? Als Erstes: Typografie war früher …
ES
ein Handwerk.
SM
… und ist heute?
ES
… ein vergessenes Handwerk.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals …
ES
Meinen Beruf ausüben können.
SM
Und welches Buch hat Dich zuletzt begeistert?
ES
Zuletzt hat mich eine Reihe begeistert, die wir für einen Verlag gestaltet haben. Es ist eine Reihe der romantischen Literatur, die ich noch aus der Schule kannte, aber es sind ganz viele Geschichten dabei, die ich nicht mehr wusste. In dem Rahmen haben wir eine neue Reihe für einen Verlag gestaltet und produziert, der bei uns Untermieter ist. Dabei habe ich viele alte Sachen wiedergefunden, die ich seit der Schulzeit nicht mehr gelesen hatte und Neues entdeckt. Das ist das Privileg, wenn man Bücher gestaltet, dass man sie vorher lesen muss, zumindest sollte man das. Ich lese sie vorher immer und lerne auf diese Weise Sachen kennen, die ich schon wieder vergessen oder noch nie gesehen habe. In diesem Fall waren es diese drei Bände der „Handlichen Bibliothek der Romantik“. Es werden insgesamt fünfzehn Bände und die ersten drei sind seit ein paar Tagen fertig. Zwischendurch habe ich mich beim Setzen festgelesen, was ja vorkommt. Man setzt und liest gleichzeitig oder muss vorher lesen. Und ich habe beides gemacht: sowohl vorher gelesen als auch währenddessen darin gelesen und es hat mir Spaß gemacht.
SM
Was bedeutet Schrift für dich?
ES
Für alles sichtbare Sprache.
SM
Um zu sehen, was dich in dieser Druckerei, der Galerie p98a so antreibt, habe ich mir euer Leitbild angesehen. Es lautet: Erhalt durch Produktion. Wie kam es dazu?
ES
Ich hatte früher schon mal eine Druckerei und habe das Drucken gelernt. Es gibt zwei Gründe, warum ich mich wieder dafür interessiere: einerseits wollte ich bereits vor vierzig Jahren als Drucker und Setzer arbeiten, was aber nicht funktionierte. Jetzt kamen zwei Dinge zusammen. Zum Einen dieser nicht zu Ende gedachte Lebensplan, den ich nach meinem offiziellen Ausstieg aus dem Designgeschäft vor etwa fünf Jahren wieder aufgenommen habe. Und Zweitens hat sich zu der Zeit sowieso die ganze Szene des Letterpress-/ Buchdruck und des Handsatzes wieder entwickelt. Das hat den Hauptgrund, dass alles, was wir heute als Gestalter machen, nicht anzufassen ist. Wir arbeiten nur noch virtuell auf Bildschirmen und es ist zwar toll, dass man dadurch unglaubliche Möglichkeiten hat, aber es ist immer gleich weg, wenn man es gemacht hat. Selbst wenn man Bücher gestaltet, ist es so. Dadurch ist die ganze Arbeit sehr unsexy geworden. Und das In-die-Hand-Nehmen und Begreifen fehlt dann auch. Deswegen heißt es im Deutschen ja auch be-greifen. Damit zu arbeiten ist eine wichtige Tätigkeit, die – gerade wenn man Gestalter ist – auch nochmal zeigt, wo der Beruf herkommt. Woher alles kommt. Der Raum zwischen den Zeilen, zwischen den Wörtern ist zu füllen, was wir hier ja auch mit Blei oder Metall, im manuellen Drucksatz machen. Ich habe mich umgeschaut und es gibt da eine ganze Menge Museen und Einrichtungen für den Buchdruck. Wie ich gerade höre, auch eines in Hannover. Aber in den meisten ist um die Geräte, Schriftgassen, Druckmaschinen und Setzanlagen eine rote Kordel und ein Schild wo drauf steht: »Bitte nicht berühren«. Das heißt, dass man es angucken kann, aber nicht weiß, wie es funktioniert. Denn man muss es ja probieren. Das ist, als wenn man Brot ins Schaufenster legt, aber nicht davon abbeißen darf. Das ist ja völlig blödsinnig. Deswegen habe ich Geräte im Laufe der Zeit angesammelt, nicht um sie auszustellen, sondern um damit zu arbeiten. Wir können damit nur arbeiten, wenn wir echte Sachen produzieren. Dann weiß man, wie es früher war. Wir werden hier sicherlich keine Bücher mehr in großen Auflagen drucken und schon gar keine Zeitung, aber wir müssen die Produktionsgegenstände, die Schrift, die Maschinen und alles benutzen, um sie zu verstehen und auch zu erhalten. Denn wenn ich damit eventuell sogar ein bisschen Geld verdiene, was wir hier mit einigen Buchdruck-Büchern auch tun, dann werden sie erhalten. Das Wichtigste ist daran, dass die Fähigkeiten erhalten bleiben. Denn niemand lernt mehr Buchdruck, keiner wird mehr Schriftsetzer. Es gibt eine letzte Generation von Schriftsetzern, die jetzt schon um die fünfzig Jahre alt ist. Das sind diejenigen, die bis Ende der 1980er Jahre noch in der DDR gelernt haben. Im Westen gibt es diese Ausbildung schon lange nicht mehr. Dieses Wissen muss weitergegeben werden. Das Gleiche gilt für Buchdrucker, die es schon viel länger nicht mehr gibt. Aber es gibt ja noch Leute, die drucken können und dafür ein Händchen haben. Beim Beruf des Buchbinders ist es ähnlich. Eigentlich sterben diese Berufe alle aus. Wir versuchen hier im Kleinen Leute zu finden, die diese Fähigkeiten haben und sie auch gerne an junge Leute weitergeben, wie dich zum Beispiel. Und das kann man nur, wenn man damit richtig arbeitet und nicht irgendwelche fiktiven Unikate macht, sondern auch mal eine Auflage und auch vielleicht mal einen Tag lang am Tiegel steht und sich vielleicht etwas langweilt, weil das halt in Routinearbeit ausartet. Aber wenn man die Routine hat, dann lernt man es auch.
SM
Wie beeinflusst dich die Materialität im Gestaltungsprozess?
ES
Grundsätzlich begreift man das, was man anfasst, mehr. Es entstehen Sachen aus dem Anfassen, aus dem Rummachen. Die entstehen immer deswegen, weil es viel weniger Möglichkeiten gibt, wenn ich etwas aus Blei oder Holz setze. Dabei habe ich nicht hunderttausend Schriften in allen Größen. Ich habe dann vielleicht zwei Schriften in einer Größe. Bei großen Schriften kann es sogar vorkommen, dass nicht genügend Buchstaben da sind. Dann muss ich den Text ändern. Wir haben hier zum Beispiel ein Plakat gemacht, das wir schon fünfmal nachgedruckt haben. Der Plakattext lautete „Better done than perfect“, was ich in einer sehr großen Holzschrift angefangen habe zu setzen. Der Text hat jedoch fünf Mal den Buchstaben „e“, aber ich hatte nur vier Holzbuchstaben zur Verfügung, sodass wir dann bei dem Wort „prfect“ ein „e“ weggelassen haben, sodass es wie ein Witz wirkte, was es aber nicht war, denn es war nicht so geplant. So etwas passiert natürlich nicht, wenn ich auf meinem Bildschirm mit Adobe Cloud 24.000 Schriften habe und 16,7 Millionen Farben. Da habe ich sogar eher das Problem, dass es zu viel ist und ich mache es mir im Grunde genommen einfach, wenn ich es reduziere. Die meisten Gescheiten haben sowieso ein reduziertes Repertoire, weil sie sich gar nicht damit auseinander setzen wollen, aber hier ist es zwangsläufig so. Dazu kommt, dass ich auch schnell fertig sein will, wenn ich mit dem Material arbeite. Ich versuche also Layouts und Seiten zu bauen, die relativ einfach sind – mit großen oder eindeutigen Abständen, damit es nicht zu lange dauert. Am Computer lassen sich kleinteiligere Layouts schnell automatisiert umsetzen. Aber diese Notwendigkeit schnell zu sein, entsteht auf der einen Seite durch Faulheit, aber auch durch Termindruck. Denn ich muss abends fertig sein und noch aufräumen, bevor ich gehe. Die Abwesenheit von zu viel Material bringt Ergebnisse, die dahingehend schlüssig sind. Als Beispiel komme ich wieder zum Essen zurück, zu normalem Schwarzbrot, in dem immer ein bisschen Weizen oder Roggen, Hefe, Wasser, Zucker und Eier sind, nur fünf Zutaten. Wenn man damit richtig umgeht und den richtigen Ofen hat, schmeckt es immer. Wenn man jetzt aber anfängt, da sehr viele weitere Zutaten zuzufügen, kriegt man Schnickschnack. Das ist zwar ganz schön zum Nachtisch, aber nicht zum Essen. Ich stelle hier also visuelle Nahrung her, die herzhaft und ehrlich ist und nicht irgendwelche Konditoreien, von denen einem eher schlecht wird, weil sie überzuckert sind.
SM
Ich habe dir eine These aus meinem typografischen Manifest mitgebracht, welches ich gerade in meiner Bachelorarbeit bearbeite und zwar: »Schrift ist Kultur.«
ES
Ja, das stimmt zwangsläufig. Denn ohne Schrift gibt es keine Kultur. Wenn wir von Kultur reden, reden wir ja von Gegenständen die für den geistigen Gebrauch, also Gedanken, Thesen, Überlegungen, die wir nur weitergeben, wenn wir sie verschriftlichen können. Von Hand schreiben kann man auch, aber wir wissen, die Reformation hätte nicht stattgefunden, hätte es Gutenberg nicht 100 Jahre vor Luther bereits gegeben. Dann hätte er mit seinen 95 Thesen in Wittenberg alt werden können. Wenn sie handgeschrieben gewesen wären, hätte Luther niemanden dafür interessieren können. Aber so waren sie innerhalb von zwei Wochen im Reich verbreitet, was damals in Zeiten von Pferdekarren und Ochsen nicht einfach war. Trotzdem hat der Papst es nach ein paar Wochen mitgekriegt, woraufhin die Revolution, die Reformation erst richtig losging. Das gesamte Wissen der Menschen wäre, wenn wir es nur mündlich weitergeben würden, erstens schwierig und zweitens auch mal unscharf. Denn das Wissen verändert sich ja bei jedem Erzählen, was schön ist, aber dem Wissen nicht dient. Und wenn man Wissen schriftlich festhält, dann ist es festgehalten. Dann kann man sich daran abarbeiten, kann dagegen sein, dafür sein, kann es überprüfen. In dem Zitat aus Goethes „Faust“ heißt es: „Wenn es Schwarz auf Weiß ist, kann man es getrost nach Hause tragen.“
SM
Ich bin jüngstes Mitglied im Buchdruck Museum bei uns in Hannover und würde dich gern fragen, warum wir die Kultur des Buchdrucks bewahren sollten.
ES
Erstens ist der Buchdruck eine deutsche Erfindung. Gutenberg hat zwar nicht als Erster gedruckt, aber als erster mit beweglichen Buchstaben – die man nachgießen konnte – die es also theoretisch in unendlichen Mengen gab, gearbeitet. Damit konnte man ganze Bücher drucken und nicht nur einzelne Seiten. Die Revolution, die davon ausgegangen ist, kennen wir natürlich alle. Wir sind es sozusagen unserem Erbe schuldig, dass wir das erhalten, denn hier hat man es erfunden, hier hat man es zu einer Blüte gebracht. Die deutschen Druckmaschinenhersteller sind auch immer noch Marktführer, wobei es nur noch wenige gibt. Früher waren die deutschen Schrifthersteller, die Satzmaschinenhersteller, immer weltführend, einfach weil es diese Tradition gab, auch von Schriftgestaltern. Es ist als Industrieland nicht ganz unwichtig, dass man solche industriellen und handwerklichen Fähigkeiten erhält. Wir haben hier eine große Geschichte und auch entsprechende Museen, wir haben die Fertigkeiten, Überlieferungen, Handwerks- und Gewerbe-Ordnung. Also eigentlich wissen wir, wie das alles geht. Es wäre eine Schande, dies zu vernachlässigen. Ich finde wir haben diese Pflicht zumindest in Deutschland die Geschichte hochzuhalten – das Handwerk zu erhalten – weil damit eben auch die geistigen Fähigkeiten einhergehen. Wenn man sich mit Schrift beschäftigt, muss man lesen. Und wer lesen kann, erschafft auch Wissen. Die Setzer haben von sich immer behauptet, der gehobenste aller Stände zu sein, weil sie das, was sie setzten, auch gelesen haben. Daher konnten sie alle Sprachen, wie lateinisch und griechisch und so weiter. Das ist eine Überlieferung, die sich lohnt beizubehalten.
SM
Sollte es Teil in der Ausbildung zum Beispiel in einem Designstudium sein?
ES
Ja, ironischerweise fängt es gerade ja wieder an. In der großen Euphorie des Desktop-Publishing in den späten 1990er Jahren, als alles mit dem Computer gemacht wurde, hat man unglaublich viele alte Bleischriften weggeschmissen und eingeschmolzen. Weil sie schwer und kaum zu bewegen sind und man Platz für die Computer und auch das Geld brauchte. Dadurch waren auch die Leute, die damit gearbeitet haben, weg. Zwanzig Jahre später, vor vielleicht zehn Jahren fing man plötzlich an zu überlegen, dass man sich nur mit dem Wischen auf Glasscheiben beschäftigt und wir nicht mehr begreifen, was wir da eigentlich machen. Wir haben kein Verhältnis mehr zur Dreidimensionalität, zum richtigen Leben. Und jetzt fangen die Schulen wieder an, sich unter anderem bei mir Maschinen und Schriften auszuleihen. Sie haben den Wert des Herstellens mit dreidimensionalen Gegenständen, die man dann druckt, bemerkt. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Eine Schrift, eine Satzform, ist ja ein dreidimensionaler Gegenstand und wenn man ihn nicht druckt, kann man ihn anfassen und lesen, auch wenn es seitenverkehrt ist. Die Schulen haben gemerkt, dass es zum Verständnis des Rhythmus einer Seite und der Elemente, die man braucht, wichtig ist. Dabei wird auch der nichtdruckende Raum angefasst. Das ist ja nicht weiß, das ist ja Metall oder Holz oder irgendwas. Es hat nichts mit Nostalgie zu tun, sondern wirklich mit dem Begreifen von Rhythmus, Seitenaufbau und Zeilenfall und diesen ganzen handwerklichen Geschichten. Und deswegen ist es eine Bewegung deutscher Hochschulen entweder zu erhalten, was sie an Setzerei noch haben, oder sogar – wie ich hier gerade bei vielen privaten Hochschulen beobachten kann – überhaupt damit anzufangen, weil die Studenten es wollen. Dass die heutigen Studenten wieder Letterpress machen wollen, ist natürlich eine tolle Bewegung. Es gibt nur leider nicht mehr viel Zeugs.
SM
Herr Forssman, den ich gestern getroffen habe, gab mir den Rat, mich mit dem historischen Hintergrund meines Fachs intensiv zu beschäftigen. Wie siehst du das?
ES
Ja. In den 500 Jahren seit Gutenberg hat sich die Druckkunst und damit die Typografie, die ja miteinander verbunden sind, stark entwickelt. Die Fortschritte in der Schriftgestaltung kamen immer auch von technischen Fortschritten. In Kupfer konnte man feinere Schriften schneiden als in Blei. Und heute kann man mit dem Computer noch feinere Schriften und andere Sachen machen. Es ist alles miteinander verbunden. Wenn man sich der Geschichte zuwendet, dann findet man heraus, warum es so geworden ist, wie es ist. Es war ja nicht so, dass einer aufgewacht ist und hat gesagt, ah, jetzt mache ich mal einen Kupferstich. Das hat sich im Laufe der Zeit so entwickelt. Als die Lithographie erfunden wurde, konnte man mit dem Pinsel Schriften machen. Da sah die Schrift natürlich anders aus, als wenn sie Bodoni in hartes Metall gravieren musste. Und wenn man sich damit beschäftigt, dann versteht und begreift man das. Genauso gibt es beim Computer noch Sachzwänge. Vor zwanzig Jahren war noch alles stark verpixelt. Die Technik hat den Buchdruck und die Typografie viel stärker beeinflusst als wir dachten und die Geschichte der Typografie ist auch eine Geschichte der Kultur. Wie viel haben wir gedruckt? Was haben wir gedruckt? Was wurde verboten? Wo wird heute noch was verboten? Wie haben sich Leute beholfen, wenn es verboten war? Beispielsweise heimliche, illegale Kellerdruckereien, ob bei den Nazis oder während der russischen Revolution oder sonst wo. Wie haben die mit ihren primitiven Mitteln im Bauhaus zum Beispiel Typografie gemacht? Je mehr man darüber lernt, desto mehr lernt man darüber, warum Sachen so aussehen, wie sie aussehen.
SM
Mit deinem Unternehmen FontShop bist du in die digitale Schriftkultur eingestiegen. Wie war es damals für dich?
ES
Naja, das hat sich so ergeben, weil ich Ende der 1980er Jahre ziemlich viel in den Staaten unterwegs war. Ich hatte schon sehr früh einen Macintosh, was in Deutschland etwas später angefangen hat, daher haben meine Kollegen hier immer gesagt, dass ich immer tolle Schriften hätte, denn es gab damals ja nur wenige, vielleicht ein paar 100 Schriften. Die habe ich noch auf großen Disketten mitgeschleppt und habe verschiedenen Leuten so Schriften mitgebracht. Irgendwann war ich es dann leid, den Leuten Disketten ins Land zu schmuggeln und habe ein offizielles Geschäft daraus gemacht. Und weil ich die Schrifthersteller alle kannte – es waren ja nur fünf –, habe ich einen Betrieb aufgemacht, im Keller von MetaDesign, einem Laden in Schöneberg. Ich habe ja damals von vier oder fünf Herstellern von jeder Schrift zwei Stück zukommen lassen, eine für PC, eine für Mac. Die Schriften habe ich in den Keller gelegt und am nächsten Morgen Anzeigen in ein, zwei Blättern geschaltet, so wie „Page“ und „Desktop-Publishing“. Leute, die die Schriften haben wollten, mussten uns schreiben und dann haben wir ihnen die Disketten geschickt. So hat das angefangen. Es gab keine feste Person dafür, es war nebenher und dann ist es natürlich gewachsen, weil die Szene gewachsen ist. Aus dem Verschicken von Disketten wurde mit der Zeit ein Verschicken von CD-ROMs und dann Versenden von Daten, wie es heute ist. Damals hat man noch in einem Katalog geguckt und bei uns angerufen, um Schrift Nummer sowieso zu bestellen und den Preis zu erfragen. Das war auch relativ teuer. Dann hat man am nächsten Morgen direkt eine Diskette gekriegt. Später ging auch das Bestellen online.
SM
Passend dazu habe ich dir aus der hannoverschen Druckerei Hahn ein Schriftenmusterbuch von früher mitgebracht. Dort gab es nur diese Schriften, die es in der Druckerei gab, sodass ich mich gefragt habe, welche ich gerne hätte. Alles andere würde dann komplett wegfallen…
ES
Die haben auch alles bei Berthold gekauft, wie ich hier sehe. Ah, sie hatten sogar eine Monotype. Schön. Bei uns war es ja ähnlich. Der erste Katalog von FontShop erschien 1985 oder 1990. Es war ein schmales Heft, so 10 x 29 cm und da waren damals vielleicht 400-500 Schriften drin, wenn es hochkommt, vielleicht sogar noch weniger. Das klingt jetzt für heute wenig, allerdings wurden sie ja als Fotosatz hergestellt. Und auch Berthold hatte zur besten Zeit nur 800 Schriften – das war unglaublich viel für die damalige Zeit. So eine normale Druckerei hatte vielleicht 40 oder 50, allerdings mussten die auch jeden Grad extra haben. Während man die Berthold beim Fotosatz von 60 – 20 Punkt setzen konnte und später 6 – 36 Punkt setzen mit einem Original, was immerhin damals 800,- Mark kostete. Das war ein Monatslohn. Und eine Anlage kostete so 120.000,- Mark. Da konnte man damals sechs oder sieben VW Golf’s für kaufen. Das hat so unglaublich viel Geld gekostet. Heute für so einen Font zwischen 10,- bis 20,- Euro zu bezahlen, ist dagegen ein Witz. Das ist für Studenten immer noch viel Geld, aber für uns ist das lächerlich. Es hat sich dadurch auch ein bisschen entwertet, man geht damit auch nicht mehr so sorgfältig um, weil morgen gibt’s den nächsten. Es sind ja auch nur Daten, die scheinbar nicht kaputtgehen. Außerdem haben alle Studenten sowieso alle Schriften, weil alle klauen und tauschen wie die Raben. Mir haben meine Studenten immer meine Schriften angeboten. Da habe ich geantwortet, dass ich sie schon habe, weil ich sie selber gemacht habe.
SM
Was würdest du einem jungen Gestalter oder Typografen mitgeben?
ES
Mitgeben? Ein Typometer. Nein, was ich allen Leuten mitgebe, ist der Rat, neugierig zu sein und zu lernen. Du hast es ja gerade schon angedeutet: Es ist alles schon Mal gemacht worden. Und je mehr man weiß, wer, wann, was, wie gemacht hat und auch in alten Büchern rumschnüffelt, entdeckt man plötzlich, dass das, was man heute als toll und neu sieht, auch schon mal da war. Und dass die Problemchen immer die gleichen sind: man muss die Botschaft an einen Mann oder eine Frau bringen. Das ist medienspezifisch in einer Anzeige anders als auf einem Plakat oder in einer kleinen Broschüre. Wenn man zum Beispiel Formulare und Fahrpläne macht, ist es ein anderes Thema, als wenn man große Werbeflächen, Anzeige oder doppelte Werbeseiten in Zeitungen macht. Aber wichtig ist, dass gute zukünftige Typografen sich mit Sprache beschäftigen. Sie müssen wissen, was Sprache ist, müssen mit Sprache umgehen können, denn sie müssen sie ja visualisieren. Für alles gilt es als allgemeines Rezept so viel zu lernen, wie es geht. Sich so viel anzugucken wie möglich, so viele Bücher zu lesen, wie es geht, sowie sich alte Druckerzeugnisse anzugucken. Wenn man dann soweit ist und richtig gestalterisch arbeitet, ist es wahnsinnig wichtig, dass man Sachen ausprobiert und auch was falsch macht. Ich finde es schlimm, wenn ich hier 13-Jährige sehe, die schon drei Lieblingsschriften haben. Ich habe auch drei Lieblingsschriften oder besser 30. Aber wenn sie in dem Alter sagen, dass sie nur eine bestimmte Schrift nehmen, die gerade in Mode ist und man sie fragt, warum sie nur genau diese Schrift nehmen, dann können sie nur antworten, dass sie sie gut finden. Das reicht mir nicht. Man muss lernen, ausprobieren und auch handwerklich arbeiten, das finde ich wichtig. Aber das gilt für jeden Beruf. Einem Schuhmacher würde ich es genauso empfehlen wie dem Bäcker. Das ist nicht spezifisch für unseren Beruf, es ist hier nur anstrengender, weil unser Beruf mit geistiger Tätigkeit zu tun hat. Man muss von Morgens bis Abends lesen. Ich habe hier eine große Anzahl von Büchern und Zuhause noch mal weitere 6.000, fast nur typografische Titel. Die habe ich zwar nicht alle gelesen oder gar auswendig gelernt, aber man entdeckt immer wieder etwas darin und wenn jemand herkommt und im Bücherschrank wühlt, findet er immer wieder Sachen, die ich noch selber nicht gesehen habe. Es lohnt sich zum Beispiel in ein Museum für Buchdruck zu gehen und dort durch die Bibliothek durchzusehen. Man findet so unglaublich viel Zeug.
SM
Wir haben auch eine eigene Schriftenbibliothek bei uns. Ich bin autodidaktisch unterwegs seit ich 12 Jahre alt bin. Dabei habe ich gemerkt, dass ich so viel Wissen aus Büchern ziehen kann. Gestern bei Herrn Forssman habe ich auch noch mal verschiedene Bücher gesehen. Neulich habe ich Eugen Nerdingers „Das Buchstabenbuch“ als Erstauflage im Antiquariat erworben, das ist äußerst interessant.
ES
Gibt’s das noch? Glück gehabt.
SM
Ich würde gern die Kernaussage meines Manifestes mit dir diskutieren: „Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung an alle, die zweidimensionale Fläche am Monitor zu verlassen, um wieder Schrift im Raum zu erfahren.“
ES
Ich finde das Wort „Raum“ ein bisschen problematisch, weil es an Leitsysteme an Wänden und in Räumen denken lässt. Ich habe da gerade den Namen Andreas Uebele in deinen Notizen gesehen, der sich mit Leitsystemen beschäftigt. Aber ich weiß, was du mit dem Begriff Raum meinst. Doch das Wort ist bei uns dummerweise schon für Leitsysteme besetzt. Du meinst die physische Dimension, mit den Händen, haptisch und in echt Typografie zu erfahren. Ich würde da schauen, ob es eine bessere Formulierung als „im Raum“ gibt. Letztlich bedeutet deine Formulierung im Raum am Ende doch nur Schrift an den Wänden, aber du meinst ein Anfassen. Abgesehen von der Formulierung hast du Recht, ich unterschreibe das sofort. Es ist ja ironisch, dass viele denken, man könnte am Bildschirm dreidimensional arbeiten, aber der Bildschirm ist immer flach. Man kann zwar Perspektive vortäuschen wie im Foto, aber es ist flach. Mir kann keiner erzählen, dass der Bildschirm dreidimensional wäre, man kann ja nicht hineingreifen. Leute, die teilweise schon seit 10 oder 20 Jahren beispielsweise als Font Encoder digital arbeiten, sind in den Workshops hier immer von den Socken. Plötzlich begreifen sie, woher etwas kommt. Vor vielen Jahren waren ein paar Amerikaner hier, denen ich gezeigt habe, wie man mit den alten Stegen arbeitet. Ich habe ihnen gezeigt, wie einfach es ist mit möglichst großen Stegen zu arbeiten und das diese in Cicero oder sogar in Konkordanz gemessen werden. Da waren sie ganz erstaunt, darin ein Grid, ein Raster zu erkennen. Dabei gibt es die Raster schon sehr lange, bereits seit 500 Jahren. Je einfacher das Raster ist, desto einfacher und schneller ist die Arbeit. Ich arbeite doch nicht mit 150 verschiedenen Maßen. So ist ihnen aufgefallen, dass man Disziplin braucht, auch heute beim Aufbau von Webseiten. Je mehr unterschiedliche Maße ich miteinander mische, desto schlechter und unordentlicher sieht es aus und niemand kann es verstehen. Diese Disziplin lässt sich hier im Metall viel leichter nachbiegen, weil es schneller geht. Dabei versteht sich von selbst, dass man bestimmte Größen miteinander kombiniert, um einen gemeinsamen Nenner zu bekommen. Ich arbeite immer mit einem möglichst großen gemeinsamen Nenner. Das ist wie beim Bauen einer Mauer, denn mit Kieselsteinen zu mauern ist ziemlich umständlich, während es mit Backsteinen einfach geht, da alle gleich groß sind und man sie gut versetzen oder auch mal einen halben Stein nehmen kann. Aus solchen Beispielen aus der physischen Welt kann man lernen, wie man einen rohen Teig macht oder eine Sohle anklebt, einen Nagel in die Wand haut. Da sich das Material zu einem erheblichen Teil selber gestaltet. Wenn man davon leben muss, sollten Aufwand und Zeit in einem Verhältnis stehen. Wenn ich für eine Gestaltung die ganze Nacht oder 5 Stunden brauche, bekomme ich dafür 100,- Mark, aber wenn ich das selbe in einer Stunde gestalte, kriege ich auch 100,- Mark. Der Stundenlohn beträgt einmal 20,- und einmal 100,- Mark. Also mache ich möglichst nur eine Stunde. Daher habe ich beim Setzen von Briefbögen immer alles nach oben und in einen Block gesetzt. In Deutschland war es ja üblich, dass man oben den Absender und den Adressaten hatte und unten rechts die Bankverbindung und solche Dinge, was eine unglaubliche Arbeit verursachte. Dabei müssen diese Angaben gar nicht auf dem Briefbogen sein, sondern auf der Rechnung. Also habe ich es oben in einem Block gesetzt, was viel einfacher zu setzen und drucken war, weil man nicht die gesamte Fläche des A4-Formats, von oben bis unten, mit Material füllen musste. Das dauert nämlich. Und obwohl mein Blocksatz bei Briefbögen keine Gestaltungsidee von mir war, sondern einfach praktisch und schneller, fanden alle meine Gestaltungen so cool. Wenn man trotzdem um 5 oder 6 Uhr nach Hause gehen will, lernt man, rechtzeitig mit der Arbeit aufzuhören, weil man dann noch sauber machen muss. Das macht man heute bei Gestaltungen am Computer nicht mehr, man schaltet einfach aus. Aber wenn man es wie ich richtig macht, räumt man vorher auch am Computer seinen Schreibtisch auf, bevor man nach Hause geht. Denn man muss ja am nächsten Morgen einen sauberen Schreibtisch vorfinden. Die Leute sind hier immer ganz überrascht, wenn ich sage, dass sie um 5 Uhr aufhören sollen zu drucken, wenn sie um 6 Uhr gehen wollen. Auch wenn ich da vielleicht etwas altmodisch klinge, ist das auch Disziplin. Es gibt einem ein anderes Verhältnis zur Arbeit und zu den Elementen, mit denen man arbeitet, dass sie nämlich wertvoll sind. Das Aufräumen, das Hinterlassen des Arbeitsplatzes, egal ob es jetzt der Bildschirm oder die Setzerei ist, gehören auch zur Arbeit dazu und man geht nicht einfach weg. Jeder Arbeiter macht nach der Arbeit sauber. Wenn ein Schuhmacher seine Leimtöpfe nicht zumacht, sind sie morgens trocken. Also muss er seinen Tag aufräumen und seine Lederspindeln und Nägel einsortieren, sonst kann er morgen nicht normal beginnen. An manchen Arbeitsplätzen arbeitet am nächsten Tag vielleicht auch ein Anderer. Diese Disziplin miteinander umzugehen, hat man in der Druckwerkstatt stärker als am Bildschirm, wo man teilweise nur isoliert rumsitzt. Am Computer ist man auch alleine mit der Angst von so vielen Ideen und Möglichkeiten, die man hat, überfordert zu werden. Dann bin ich ganz froh, wenn ich an meinen manuellen Kasten gehe, wo ich nur 10pt oder 12pt habe.
SM
In dem Buch „Material“ von Andreas Uebele, welches du wahrscheinlich auch kennst, habe ich ein Zitat gefunden, was er Studenten weitergibt: „Haltung, Handwerk und Heulen.“
ES
(lacht) Ja, der ist ja ein grober Schwabe, ein lustiger Vogel.
SM
Ich finde die Frage interessant, ob man durch den Buchdruck und die Schriftkultur einem Gestalter eine Haltung beibringen kann?
ES
Ja, ich glaube schon. Zumindest eine Haltung im Umgang mit dem Material. Die Haltung, dass das Material wertvoll ist und dass es effektiver ist, wenn man mit wenigen Mitteln arbeitet und nicht alles auf einmal macht, nicht 47 Ideen gleichzeitig hat. Wenn man sein Arbeitszeug ordentlich behandelt, ist es ja auch eine Haltung. Dann behandelt man vielleicht auch Leute ordentlich. Alles herumliegen zu lassen und schlampig zu sein, ist so eine Grobheit, die ich auch im Zwischenmenschlichen sehe. Beispielsweise im Straßenverkehr fährt heute jeder bei Rot über die Ampel. Das weiß ich als Fahrradfahrer. Wenn ich weiß, dass sie bei Rot nicht unbedingt halten, dann kann ich mich nicht auf mein Grün verlassen. Ich glaube, es hat alles miteinander zu tun. Diese Entfernung von der eigentlichen Welt, das virtuelle Leben dieser Handyzombies oder Smartphone-Zombies, die herumlaufen. Bei all den Leuten, die mit Kopfhörern aus der U-Bahn kommen und nur auf ihr Handy glotzen, während sie über die Straße rennen, verstehe ich nicht, warum die keinen Überlebenswillen mehr haben. Auch all diese Rollerfahrer werden irgendwann eines gewaltsamen Todes sterben und dann hat die Evolution gesiegt. Menschen, die sich so verhalten, leben auch nicht im Sinne eines Teilnehmens am Leben. Warum wohnen sie in der Stadt, wenn sie mit Kopfhörern und Handydisplay von allem abgeschirmt sind? Sie nehmen gar nichts war, wissen nicht wo sie sind. Da muss man nicht in Berlin wohnen, da kann man sonst wo hingehen, wo die Mieten nichts kosten, Cottbus oder Duisburg vielleicht. Zu dieser Entwicklung gehört auch mit Nachbarn oder in der U-Bahn nicht mehr miteinander zu reden oder sich anzugucken, weil dieses vereinzelte Starren auf die Bildschirme ein sehr, sehr asoziales Verhalten ist. Das wird immer schlimmer. Aber dieses asoziale Verhalten kann man in der gemeinsamen Arbeit wieder verlernen. Wenn du zu zweit oder zu dritt arbeitest, musst du miteinander reden. Man muss sich absprechen und fragen kannst du mal dies oder das machen, hast du mal das, reich mir doch mal etwas oder geh mal weg oder komm mal her, heb mal mit an. Allein das sind soziale Fähigkeiten, die wir gerade verlernen. Wir sitzen entweder im Auto und brettern an anderen vorbei über die Straßen oder wir glotzen auf die Bildschirme und meistens alles gleichzeitig. Im Auto glotzen sie nun auch schon auf den Bildschirm. Ich will jetzt nicht wie ein Bilderstürmer klingen, denn ich habe ja selber viele Bildschirme. Ich war der erste deutsche Grafiker, der 1985 einen Macintosh gekauft hat. Ich bin wirklich kein Bilderstürmer, ich kann auch programmieren, aber ich sehe inzwischen stark die sozialen Probleme, die durch die Vereinzelung kommen. Vor allem, dass man das auf den Bildschirmen für die Welt hält – das ist nicht die Welt, das ist ein Bild von der Welt und das ist sehr, sehr unscharf und falsch.
SM
Super, vielen Dank für das Interview.
ES
Immer gerne.