Nachdem Friedrich Forssman und ich auf der Frankfurter Buchmesse ins Gespräch gekommen waren und er Interesse an meiner Arbeit zeigte, verlor ich keine Zeit. Ich schickte ihm eine Mail, in der ich verschiedene Terminvorschläge machte. Gespannt wartete ich auf seine Antwort, welche nicht lange auf sich warten ließ.
In der Zwischenzeit erstellte ich einen Fragenkatalog, welcher dem Interview sowie den zukünftigen Interviews mehr Struktur und einen roten Faden geben sollte. Ich hatte mir von einer Journalistin Feedback geben lassen und gemeinsam haben wir uns das Interview mit Rolf Rehe angehört. Meine Intention dahinter ist es auch, meine Nervosität, darüber ein wenig zu kontrollieren, damit ich trotzdem ein ruhiges Interview führen kann. Nicht nur ein Fragenkatalog ist wichtig dachte ich mir, sondern ebenfalls die Recherche zu der Person Friedrich Forssman selbst.
Während ich die zahlreichen Informationen über ihn las, begann ich mir verschiedene Fragen zu stellen. Gibt es besondere Werke und welche Geschichte steckt hinter diesen? Wie ist die Person zu ihrer Arbeit gekommen? Was fasziniert und inspiriert diese Person an ihrer Arbeit? Welche Erfahrungen wurden gesammelt?
Über Friedrich Forssman fand ich auf seiner Website einen Link zu einem Lexikoneintrag vom SAUR, „Allgemeines Künstlerlexikon“. Dieser Eintrag half mir, die Anfänge dieser Person zu verstehen und nachvollziehen zu können.
Gut vorbereitet, samt Audioequipment und Fragenkatalog, welcher auf Papier geschrieben stand, da Herr Forssman keine Smartphones mag, setzte ich mich am 29.10.2019 um 10:14 Uhr in den ICE nach Kassel-Wilhelmshöhe, wo ich um 11:37 ankam. Vom Bahnhof aus nahm ich voller Energie den steilen Berg in Angriff, an welchem Ende, angrenzend an einen Wald, Forssmans Haus steht. Nach einem kurzen „Hallo“, machten wir es uns in seinem Arbeitszimmer gemütlich. Auf einem kleinen Tisch aus Eichenholz baute ich mein Soundequipment auf. Das Interview startet entspannt, umgeben von literarischen Werken, Büchern und Typografie …
SM
Ich spreche heute mit dem Buchgestalter, Typografen, Gebrauchsgrafiker, Ausstellungsgestalter und Fachautor Friedrich Forssman, der 1982 eine Schriftsetzerlehre in Bamberg und 1985 sein Fachabitur an der Fachhochschule Darmstadt absolvierte. Danach schloss er ein Grafikdesignstudium an der Fachhochschule Mainz bei Hans Peter Willberg ab. Im Jahr 1990 erhielt er das Gutenberg-Stipendium in Mainz. Seitdem gestaltete er viele Klassiker der Weltliteratur.
Hallo Friedrich Forssman, schön, dass Sie hier sind. Woran haben Sie als Letztes gearbeitet?
FF
Die letzte ganz große Sache war eine Ausstellung namens „Lass leuchten, Peter Rühmkorf zum Neunzigsten“, also ein Literatur-Ausstellungsprojekt. Diese Ausstellung läuft aktuell, also seit dem 20. August 2019 bis zum 20. Juli 2020.
SM
Sehr schön. Wo findet sie statt?
FF
Im Altonaer Museum in Hamburg – ein eher lokales Museum. Peter Rühmkorf wird dort auf sehr großer Fläche gefeiert. Er hat in Hamburg den größten Teil seines Lebens verbracht und so haben wir, die Arno-Schmidt-Stiftung, die sich um den Nachlass von Peter Rühmkorf und die Rechte kümmert, dort diesen Platz bekommen, um eine ausgesprochen aufwendige Themenausstellung auszubreiten.
SM
Das hört sich sehr gut an. Ich habe einen kleinen Fragenkatalog mitgebracht und bitte Sie, folgende Sätze zu ergänzen. Typografie war früher …
FF
Früher, was heißt früher? Ich bin mal neugierig, wie wir mit diesen Ergänzungssätzen zurechtkommen werden. Früher definiere ich von der Erfindung der Typografie bis zu der Zeit kurz vor meiner Geburt. Typografie war früher und ist heute ein verblüffend stabiles System, um Sprache in Schriftzeichen umzusetzen und uns auf eine mühelos verständliche Weise zur Verfügung zu stellen.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals …
FF
… das Licht der Welt erblickt, vermutlich. Sich eine Welt ohne Schrift zu denken, hieße sich eine so radikal andere Welt vorzustellen, dass nichts davon so wäre, wie wir es gerade kennen.
SM
Welches Buch begeistert Sie am meisten?
FF
Das ist nicht beantwortbar, jedenfalls nicht zuspitzbar auf ein Buch. In meiner Vorstellung war auch die Rede von Weltliteratur. Ich habe nicht etwa nur Weltliteratur gestaltet, sondern alle möglichen Sorten von Literatur, die ich gestalten durfte, die mir unterbreitet worden sind. Denn ich habe sehr selten etwas abgelehnt. Und die Vielzahl der Bücher ist ja gerade das Erfreuliche. Ich könnte mich nicht auf einen einigermaßen akzeptablen Kanon von Büchern einigen, geschweige denn auf eines.
SM
Hat jedes Buch für Sie eine Art Seele, also einen eigenen Charakter?
FF
Eigenen Charakter – ja. Seele ist ein schwieriger Ausdruck, denn das ist etwas sehr eigenständiges. Nun, was heißt schon jedes Buch? Gehen wir jetzt wieder von Literatur aus? Es gibt ja auch alle möglichen Sorten von Büchern und die haben durchaus sehr, sehr unterschiedliche Charakteristiken. Aber ja, ich wäre nicht gerne Buchgestalter, wenn nicht jedes Buch auch selbstbestimmte Anregungen geben würde, wie es gestaltet sein möchte.
SM
Daraus ergibt sich die Frage, was bedeutet Schrift für Sie?
FF
Das ist eine Frage, die zu beantworten meine bisherigen etwa 35 Jahre Berufstätigkeit nicht ausgereicht haben. Da bin ich neugierig, ob ich es in einigen Sätzen hinbekomme. Peter Rühmkorf bewundere ich unter anderem dafür, dass er auf sehr offene Fragen in Interviews immer sehr geistreich geantwortet hat. (lacht) Ich habe mir immer vorgenommen, dies auch hinzubekommen, aber so weit bin ich noch nicht. Schrift ist für mich so faszinierend, weil die Differenzen zwischen einer Berthold, Bembo und einer Stempel Garamond einerseits sehr gering sind. Die Unterschiede, ja im wahrsten Sinne des Wortes, sind mikroskopisch. Und andererseits sind diese Unterschiede nicht nur für uns Schriftgestalter und Typografen, sondern auch für halbwegs geübte Leser wieder relevant und werden wahrgenommen. Das ist das eine, was mich fasziniert. Sogar Kinder – ich habe es unlängst mit meiner elfjährigen Enkelin ausprobiert – können ganz mühelos sagen, welche Schrift zu welchem Buch passt und haben auch schon die richtigen Vokabeln dafür. Meine Enkelin konnte sagen, dass eine Schrift den Text nicht ernst nimmt oder zu kindlich ist. Dabei reden wir jetzt nicht über Extremfälle, wir reden nicht über Comic Sans und solche Scherzartikel. Sondern wir reden von Schriften, die noch im üblichen Lesespektrum sind. Kinder sehen das trotz der winzigen Unterschiede. Einerseits finde ich also die Varianz in diesem sehr kleinen Spektrum faszinierend. Und andererseits die Varianz in einem Spektrum, dass dann wieder durchaus größer ist. Dass man, trotz der dann wieder erstaunlichen verschiedenen Schriftformen, sehr schnell lernt Fraktur zu lesen. Das Buch „Lesen“ von Stanislas Dehaene erklärt sehr befriedigend, warum diese kleinen und großen Varianzen uns so vorkommen, wie sie uns vorkommen und warum wir gegenüber sehr großen Varianten tolerant sind und gegenüber anderen relativ kleinen Varianten nicht tolerant sind. Es war sehr befriedigend zu lesen und ist für uns Gestalter wichtig zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn es keinen ganz direkten Einfluss auf unsere Arbeit hat. Aber es hat mich immer wieder begeistert festzustellen, wie ein Text sich in dieser subtilen Differenz anders darstellt, wenn man eine nur ein bisschen andere Schrift wählt und wie wichtig solche Entscheidungen sein können, obwohl sie andererseits ja auch sehr stereotypisch sind. Zu sagen, für die Bibel ist TL Documenta eine bessere Schrift als Temporal, bedeutet dann ja auch zu sagen, dass gilt für die ganze Bibel, also für das Alte Testament und für das Neue Testament. Wie kann es sein, dass wir diese kleinen Schriftdifferenzen auf etwas beziehen, das einen so großen und heterogenen Textkorpus darstellt? Aber es geht. Und es ist nicht nur so, dass wir es können und es reizvoll finden, sondern die Leser folgen uns sehr gerne in diesem Spiel.
SM
Am Anfang meines Studiums habe ich mir Ihr Buch „Detailtypografie“ besorgt und mich interessiert es, wie es zu diesem Buch kam.
FF
Zu dem Buch kam es, als ich im Hauptstudium nach Mainz gegangen bin. Denn in Darmstadt habe ich mein Grundstudium absolviert, um dann zu Hans Peter Willberg, dem großartigen Buchgestalter und großartigen Lehrer, nach Mainz zu wechseln. In Darmstadt hatte ich nur außerordentlich schlechte Arbeiten gemacht und hatte in meiner Erinnerung auch Lehrer, die zumindest nicht die Richtigen für mich waren. Es war damals eine, sehr durch Konkurrenz getriebene, Werbeschule. Inzwischen gibt es da hervorragende Lehrer und Unterricht. Für mich war das damals nichts und ich war noch zu Beginn des Hauptstudiums sehr neugierig, ob das Studium das Richtige für mich ist. Die alten Arbeiten habe ich zum Glück alle verbrannt. Hans Peter Willberg hat uns Studenten zu eigenen freien, selbst gewählten Projekt angeleitet, welche wir jede Woche mit ihm besprochen haben. Wir konnten ein Buch gestalten oder irgendetwas mit Typografie und Schrift machen. Ich wählte mir einen Satz aus dem Spätwerk Arno
Schmidts – ein Autor, auf den ich schon als Schriftsetzer-Lehrling von Rolf Bulang einem Freund, gestoßen wurde und dessen vorhandenes Werk ich begeistert vollständig gelesen habe. Das Spätwerk lag damals nicht gesetzt vor, sondern nur in Form von Typoskripten, die in den späten 1960er bis Mitte der 1970er Jahre reproduziert worden waren. Aber in der Form konnte oder wollte ich es nicht lesen, denn es ist nun einmal so, dass Schriftsatz und Typografie das Erscheinungsbild der Literatur ist. Huib van Krimpen zitierend: »Ein Buch ist erst ein Buch, wenn es ein Buch geworden ist.« Das galt im vollen Sinne noch nicht für das Arno Schmidt’sche Spätwerk. Gerade weil es auch formale Extravaganzen enthält, konnte ich beim Lesevorgang das, was das Schreibmaschinenbild hinzugefügt hat, nicht mühelos substrahieren und damit also nicht die Trennlinie klar sehen zwischen dem, was an Arno Schmidts Literatur besonders ist und an dem, was nur an der Darreichungs-Form besonders ist. So fing ich also in diesem fünften Semester an, den Text zu setzen. Ich konnte das ja als gelehrter Schriftsetzer mit dem in der Hochschule herumstehenden Bertholdsatz-System. DTP war noch nicht so weit, die Rechner konnten noch nicht das, was man gebraucht hätte, um richtig guten Schriftsatz zu machen. Es fehlte nicht mehr viel, aber es war noch nicht so weit. Und ich habe an der dortigen Satzmaschine von „Zettel’s Traum“, „Schule der Atheisten“, „Abend mit Goldrand“ und „Julia“ jeweils zehn Seiten gesetzt. Man könnte jetzt ja denken, dass ein Mann, der Schriftsetzer gelernt hat, detailtypografisch gewusst haben wird, was dort zu tun ist. Nichts könnte falscher sein als das, denn in der Schriftsetzer-Lehre hatte ich einen Ausbilder, der selber keine Ahnung von Typografie hatte und nur die Ausbildungsberechtigung und eine Druckerei besaß. Dadurch war ich allein mit einem Schriftsatz-System der Firma Berthold und habe Dinge wie Instrumentenseiten-Etiketten oder Beipackzettel für Medikamente gesetzt. Damals habe ich Typografie und Schriftsatz vollkommen naiv aufgefasst. Wenn beispielsweise Großbuchstaben hintereinander standen, habe ich Großbuchstaben hintereinander getippt, wie auf der Schreibmaschine und hatte erstmal gar kein Sensorium für Details, auch wenn ich alle Handspielereien natürlich ausprobiert habe. So ähnlich fing ich dann auch bei Hans Peter Willberg an, bis ich eines der Schlüsselmomente in meinem Leben hatte, als ich einige Versalien, die bei Arno Schmidt häufig sind, hintereinander getippt hatte, noch dazu in der Schrift Berthold Bembo, die große Versalien hat. Willberg kommentiert es und fragte mich, wie das denn aussähe. Worauf ich gedankenlos sagte, dass man bei Versalien nichts machen könne, sie sähen immer so aus. Daraufhin riet er mir, ich solle sie doch ein bisschen kleiner machen und sie etwas sperren. Das war ein großer biografischer Moment, so trivial das nun klingt. Obwohl ich wusste, dass und wie es funktionierte, bin ich noch nicht selbst auf die Idee gekommen, durch solche Detailmanipulationen dafür zu sorgen, dass die Schrift in einem besseren Rhythmus ist und das Satzbild besser wird. Und so setzte ich dies dann gleich um, war vom Ergebnis entzückt und habe Versuchsreihen angefertigt. Wobei es damals ja noch keine Laserdrucker gab, sondern man dann erstmal auf Fotopapier belichtet hat. Ich habe kleine Reihen gemacht, um zu untersuchen, wie groß und gesperrt Versalien denn nun sein sollten. Dabei habe ich dann auch festgestellt, dass es zu dem Thema sehr wenig Literatur gibt. Ich stieß vor allem auf das Büchlein „Das Detail in der Typografie“ von Jost Hochuli, das wohl Mitte der Achtziger erschienen sein muss. Ansonsten fand ich nicht viel Literatur, in der diese Arten von Details behandelt worden wären. Zunächst einmal machte das nichts. Dass, was ich für Arno Schmidt und sonst so brauchte, das habe ich eben notiert oder ausgetüftelt und arbeitete dann auch an dieser Arno Schmidt-Sache. Die Arno-Schmidt-Stiftung, die es erfreulicherweise gab und gibt, hat mir dann auch schon während des Studiums den Auftrag gegeben diesen Buchsatz über insgesamt etwa 2.000 Seiten nach meinem Abschluss zu setzen. Während ich das machte, gingen meine Notate weiter und ich schaute dann auch in alte Bücher, um zu sehen, wie weit man denn nun Semikola oder Fragezeichen wirklich absperrt und all diese Dinge. Ich habe weiter darüber gestaunt, dass darüber nirgends etwas stand und daher reifte in mir der Plan, irgendwann ein solches Buch zu machen. Einige Jahre später hatte ich meine Tätigkeit gegenüber diesem Arno Schmidt-Satz deutlich ausgeweitet und gründete mit dem kasseler Grafikdesignstudenten Ralf de Jong ein Büro in Kassel. Mit Ralf de Jong, der erfreulicherweise auch ehrgeizig genug für solche Projekte war, hatte ich nun auch einen Austauschpartner für das Buch, zu dem er natürlich auch Kapitel beigetragen hat. Der Kristallisations-Keim ist sicherlich aus meiner Detail-Manie in der Arbeit mit Texten von Arno Schmidt entstanden. Aber natürlich würde es ohne Ralf de Jong dieses Buch auch nicht geben.
SM
Also hat diese Zeit dann auch ein kompaktes zusammengeführtes Nachschlagewerk benötigt?
FF
Diese Zeit hat das benötigt und es verkauft sich auch heute recht gut. Und das, obwohl es in einigen technischen Hinweisen auch nicht sonderlich aktuell ist, aber offenbar ist das nicht so schlimm. Man kann das dann ja auch auf Aktuelles übertragen. Es ist ein Buch, das auf 400 Seiten grundsätzlich alles abhandelt, was in einer Satzzeile so passieren kann. In manchen Fällen auch über die Satzzeile hinaus. Aber ich denke, der Erfolg des Buches liegt darin, dass es wirklich Auskunft über alle möglichen großen und kleinen Fragen gibt.
SM
Ich finde, es ist eine Typografie-Bibel. Das Nachschlagewerk, wenn ich irgendwas wissen muss.
FF
Ich denke auch, dass es eine ganz wichtige Funktion von Detailtypografie ist, die Augen desjenigen zu öffnen, der dafür empfänglich ist. So wie damals Hans Peter Willberg bei mir durch diesen einen Satz, etwas mit den Versalien zu machen, damit sie nicht so schlecht aussehen – durch diesen einen Satz purzelte alles andere so nach. Und ebenso wird Detailtypografie sicherlich den Effekt haben, dass Leute sehen, dass es diese Ebene des Umgangs mit Schrift überhaupt gibt. Dann muss man auch nicht unbedingt die ganze Zeit darin nachschlagen, sondern man lernt die Augen dafür zu öffnen. Ganz viele Leser wissen einerseits sehr viel über Schrift. Da hatte ich ja das Beispiel dieser Eignungsunterschiede genannt, denn Literarizität und solche komplexen Eigenschaften kann man der Schrift ja leicht zuweisen. Andererseits weiß auch ein gebildeter Leser keineswegs auf welcher Seite das „A“ fett ist, nämlich nicht links, sondern rechts und der Querbalken auch nicht. Wenn man den Leuten einmal die Augen dafür geöffnet hat, dann sehen sie es zukünftig auch. Und das Gleiche gilt für Spationierungen und alle Arten typografischer Späße.
SM
Das finde ich sehr interessant. Ich habe mich mit der Geschichte der Schrift befasst und auch mit den Schriftsätzen und damaligen Gebrauchsgrafikern. Ich habe festgestellt, dass zu Beginn des Wandels vom Analogen zum Digitalen, also vom Schriftsetzer zum Gebrauchsgrafiker, sehr viel experimentiert wurde. Meinen Sie, dass dabei auch typografische Defizite aufgetaucht sind?
FF
Das sehe ich aus einer anderen Perspektive, denn einerseits freut man sich doch über jeden Dilettanten. Auch ein Konzertviolinist freut sich über ein paar Leute, die im stillen Kämmerlein ein Streichquartett gründen, auch wenn es quietscht und die Einsätze nicht stimmen, trotzdem sind das grundsätzlich die Leute, die das Gleiche interessiert wie man selbst. Zweitens werden diese Leute die CDs kaufen, die man selbst produziert. Also da ist der Wunsch nach Überheblichkeit ausgesprochen unterentwickelt. Darüber hinaus kann man in sehr vielen Zeiten irgendwelche Defizite der Typografie nachweisen. Auch das ist eine Frage des Blicks. Wir könnten jetzt einige Bücher aus dem Regal ziehen, die ich da leider nicht drinstehen habe. Bücher, die geradezu reflexhaft fetischisiert werden, beispielsweise „Hypnerotomachia Poliphili“ von Aldus Manutius. Oder der „Italienische Karneval“ von Goethe in diesem fetischisierten Druck. Da kann man jeweils sagen, was daran so wunderschön ist. Man kann aber auch sagen, an welchen Stellen es auch etwas unbeholfene Drucke sind. Die große Frage, die sich stellt, lautet: Stimmt das Ganze? Im Falle der beiden genannten Drucke stimmt das Ganze natürlich in hervorragendem Maße. Und auch sonst sind mir Dinge, die mit Herz und Verstand und mit einem guten Auge gemacht sind, aber bestimmte Könnerschaften nicht aufweisen, allemal lieber als ein perfektes, glattes Ergebnis, das aber seelenlos ist. Zum Glück haben wir es inzwischen mit sehr vielen Sachen zu tun, die all das gleichzeitig enthalten, sowohl große Könnerschaft im Großen und im Kleinen als auch Begeisterung und Seele. Aber ja, bei dieser Medienbruch-Zeit gab es schon durchaus die ein oder andere amüsant schroffe Bruchlinie. Es war damals auch durchaus eine Mode den Verlust zu beklagen, dass die alten Schriftsetzer aussterben und nun nur noch Nichtskönner an Computern sitzen. Nicht ganz falsch, aber wenn wir die Bücher aus der damaligen Zeit aus dem Regal ziehen, sieht der Schriftsatz eigentlich alles in allem immer noch ganz gut aus.
SM
Ich habe aus dem Buchdruck Museum in Hannover ein kleines Buch mitgebracht, das mir sehr geholfen hat. Und zwar „Das Jägerlatein der Schwarzen Kunst“, welches ein paar Fachbegriffe zu Schriftsetzer-Zeiten erläutert. Was ist Ihr erster Eindruck von dem Buch?
FF
Es ist ein amüsantes, ganz sympathisches Ding. Einerseits erfrischend, andererseits auch auf den ersten Blick durchaus etwas befremdend, da es so gar nicht den Designer-Bräuchen und Coolheits-Wettbewerben folgt, die durchaus auch schon im Jahr 1919, als das Buch offenbar erschien, üblich waren, sondern sich diesen Tendenzen verweigert. Das gibt bei mir eindeutige Sympathie-Punkte. Diese Arten von kleinen Dissidenzen, denn auch und gerade wir Designer tun ja so, als wären wir große Kämpfer für Verschiedenheiten und Gerechtigkeiten, bestrafen aber sehr schnell kleine oder auch nur formale Abweichungen sehr stark und tun so, als könnte man mit solchen Leuten gar nicht sprechen. Hier setzt sich jemand für Fraktur ein – mir natürlich schon mal grundsätzlich sympathisch. Und …
SM
War am Anfang auch nicht ganz einfach zu lesen, aber mittlerweile komme ich ganz gut rein.
FF
Ich hätte jetzt gedacht, man braucht zwei Seiten und dann sieht man nicht mehr, dass es Fraktur ist. Ging das nicht so schnell?
SM
Nein, ich habe das wirklich noch gelernt.
FF
Ich erinnere mich nicht, Fraktur gelernt zu haben. Ich habe schon als Vorschulkind Fraktur und Antiqua gleich mühelos gelesen und bin auch ausgesprochen beglückt darüber, dass die Fraktur nun wieder in ihr Recht gerückt wird und wir sie nicht historisch für etwas verurteilen, woran eine Schrift ohnehin nicht Schuld sein kann. Die Fraktur kann schon gar nicht an den Abscheulichkeiten der Nazi-Zeit Schuld haben. Und dass jetzt auch speziell junge Schriftdesigner und Grafikdesigner der Fraktur zumindest wieder eine Nische lassen, dass ist mir sehr lieb. Und so hat diese Publikation meine Sympathie. Nachdem ich das alles so geäußert habe, muss ich sagen, dass es auch nicht die größte gestalterische Leistung ist, die ich je in den Händen gehalten habe.
SM
Ich finde es auf jeden Fall ganz interessant, weil es humorvoll beschreibt, wo die ganzen Fachbegriffe herkommen. Ich schreibe ja aktuell als meine Bachelorarbeit das »typografische Manifest.« und hab Ihnen daraus eine These mitgebracht: „Schrift ist Funktion.“
FF
Aha, in Form einer Guss-Zeile.
SM
Genau, gesetzt auf einer Linotype.
FF
In der Stempel Garamond?
SM
In Excelsior …
FF
Ohne Lesebrille auf Armlänge dachte ich, ich mache mal einen Schuss ins Blaue oder in die Wolken. Sehr kleine Wortwahl.
SM
Die Excelsior in 7pt.
FF
Ja, für meine gealterten Augen eindeutig, aber es ist eine Antiqua und sie steht gerade. Das ist jetzt Ihre Grundthese des Manifests?
SM
Das ist eine Grundthese von fünf und ich würde Sie gerne fragen, was Sie über den Satz: „Schrift ist Funktion“ denken.
FF
Dieser Satz erfüllt mich erstmal mit einer beachtlichen Skepsis. Schrift ist Funktion. Das ist erstmal eine Gleichstellung, die doch mehr Fragen aufwirft. Möchten Sie damit sagen, dass Schrift eine so lange Evolution mitgemacht hat bis sie eine Hochform, ein rein funktionales Etwas geworden ist? Sie könnten ebenso gut alle möglichen Erscheinungsformen des Lebens in der Form mit Funktion gleichsetzen. Kleidung ist Funktion oder Gesellschaft ist Funktion oder Architektur ist Funktion. In all diesen Fällen erscheint es mir, als müsste da mehr behauptet werden, damit wirklich Funken fliegen können.
SM
Mein Gedanke dabei ist, dass Schrift immer zweckgebunden ist. Schrift kommt ja von der Schreibschrift, wird dann über Gutenberg durch die Buchstaben anonymisiert und hat am Ende nur eine Funktion zu erfüllen. Das finde ich vor allem in Bezug auf lesbare Schrift sehr wichtig, dass sie auch wirklich ihre Funktion zu erfüllen hat, gerade bei großen Plakaten etc., bei denen auch Informationen wahrgenommen werden müssen.
FF
Gegenüber Ihrer kurzen Darstellung, dass Schrift erst unter Gutenberg anonym wurde, möchte ich schon eine gewisse Skepsis anmelden. Eine Handschrift ist immer einigermaßen individuell, ja. Aber so war die ja nun keineswegs gemeint, sondern die Schreiber hatten eine sehr präzise formale Ausbildung. Es ging ihnen gerade nicht darum, ihre Individualität kaligrafisch auszudrücken, sondern Vorbildern sehr sachlich zu folgen. Die allerwenigsten Schreibernamen sind uns noch bekannt. Und es wäre einem Schreiber nicht in den Sinn gekommen, sein Werk zu signieren. Also da ziehe ich keinen geringeren oder höheren Anonymitäts-Wert als in den ersten Drucken, die ja die Handschrift nachgeahmt haben. Ich weiß nicht, ob dieser Forschungsstand überholt ist, aber es hieß, dass Gutenberg mit seiner 42-zeiligen Bibel die Handschrift sogar nachahmen wollte.
„Gutenberg mußte die herkömmlichen edlen Handschriften nachahmen, wenn er mit der ‚Kunst des künstlichen Schreibens‘ Erfolg haben wollte. Nur das Vollkommene galt. So wirkten seine Drucke wie Handschriften, und nur geübte Augen konnten erkennen, daß es sich um Druckwerke handelte.“
Dass er so tun wollte, als würde er handschriftliche Werke vertreiben. Es ist gerade zum ersten Mal seit 90 Jahren wieder ein erschöpfendes Kompendium zu Inkunabeln erschienen. Zu Ihrer These würde ich die Anonymität hinterfragen und das Wort Funktion ist kein Wort, das allein unendlich viel aussagt. Gerade im Zusammenhang mit Gestaltung hat das Wort „Funktion“ allerhand Verwirrung angerichtet. Ich denke kein Gestaltungs-Zitat wird öfter in den Mund genommen als „Form follows function“. Und Sullivan hat es, wie ich ironisch hinzufüge, bekanntlich in einem Kontext gebraucht, der nicht mit zitiert wird, und der diese Funktion genau nicht als eine vulgär-physiologische Funktion sieht. Sondern er spricht in seinem „Form follows function“ von Gebäuden und bringt zum Ausdruck, dass ein Bürogebäude einfach aussehen soll wie ein Bürogebäude. Dass also die Form die Funktion darstellen soll. Und so betont er also ausdrücklich die soziale Funktion eines Gebäudes, des Äußeren eines Gebäudes. Und sehr häufig oder ausschließlich wird das Zitat im Sinne einer Vulgär-Funktionalisierung benutzt. Es muss erstmal praktisch sein und dann ist es auch schon fertig. Und wenn wir dann noch irgendwelche dekorativen oder historischen Elemente oder Elemente, die auf einen bestimmten Kontext verweisen hinzufügen, haben wir ja die Funktionalität gestört. Das ist ein großes Missverständnis. Und so ist auch Schrift eindeutig hoch funktional, hat aber auch einige unaustilgbare Dinge, die überhaupt nicht funktional sind. Das Schriftsystem ist bekanntlich hoch funktional, wir alle haben diesen komplexen Vorgang des Lesens gelernt, was auch erstaunlich schnell geht. Es ist fast so als hätten wir so eine Art von genetischer Prädisposition ausgerechnet zu diesem komplexen Vorgang, Laute in Symbolen nachzuahmen. Andererseits gibt es auch in der historisch entstandenen Schrift bekanntlich viele Elemente, die sich jeder Reform verweigern, also die Ähnlichkeit des Versal-Is mit dem kleinen l, bestimmte Zeichen, die kollidieren, die große Überhänge haben, Dinge, die zum Teil im Bleisatz sehr lästig waren, die aber nie reformiert wurden. Also auch dort, wo die Schrift dysfunktional ist, hat sich die Tradition als stärker erwiesen. Was heißt dann Schrift ist Funktion? Wir müssen diese Frage zerlegen.
SM
Ich bin im Gespräch mit meinem WG-Mitbewohner, der Philosophie studiert und sehr viele Bücher liest, auf diese These gestoßen. Er ist der Meinung, dass ihm egal ist, welche Schrift in den Büchern verwendet wird. Ich habe ihn auf die gute Lesbarkeit der Schrift hingewiesen, damit er die Informationen aus den Büchern möglichst schnell wahrnehmen kann. Und so bin ich auf die These der guten Lesbarkeit, der Schrift als Funktion gestoßen.
FF
Ja, fast alle Bücher oder sogar alle Bücher, die ihr Freund vorfindet, sind ja gut gesetzt. Er kommt eher selten zu einem Text, auf den das nicht zutrifft. Und wenn das wiederum der Fall ist, dann nehmen wir mal an, er hat ein Skript und das ist ein faszinierender Text, liegt ihm aber nur als ein Ausdruck in, meinetwegen Kurier, vor. Wenn der Text interessant genug ist, ist der Leser-Ansporn groß genug, um das zu überbrücken und zum anderen sind es Produktionsbedingungen, denen er wiederum intuitiv zustimmt und die er versteht. Wenn er als Philosoph wiederum einen 500-Seiten-Band von Hegel, Kant oder Aristoteles vorfände, der in 7pt Kurier gesetzt wäre, dann würde er das äußerst ungern lesen. Und würde keineswegs sagen, dass ihm das Einzelne egal sei, solange doch die Information drinsteckt und die vertrauten Zeichenformen benutzt werden. Er wäre äußerst konsterniert. Nein, bei seinem Durchpflügen von Büchern – was mich für ihn und das Fortkommen der Menschheit nur freut –, kommen ihm sogar Dinge zugute, von denen er noch weniger weiß, dass sie gut gemacht sind. Allein der Umstand, dass es ein Buch ist, sorgt dafür, dass er sich topografisch orientiert und erinnert. Also jeder einigermaßen solide Leser weiß zum Teil nach 20 Jahren noch, dass in diesem Buch eine bestimmte Stelle relativ weit hinten und zwar rechts unten auf der Seite ganz interessant war.
SM
Das ist sehr interessant, weil er aktuell sehr viele Paper liest, die nur online, digital als PDF, verfügbar sind. Bei den anderen Büchern markiert er sich Sachen mit dem Bleistift und kann genau sagen und zitieren aus welchem Buch, was, welcher Satz war.
FF
Weil dieses Buch auch als ein Körper mit seinen Eigenheiten vor uns getreten ist. Es war dieses große Blaue mit dem rauen Einband und dieser bisschen erdigen Schrift. Auch wenn wir das alles gar nicht mehr wissen, begegnen wir den Büchern und auf diese Weise haben sie auch Körperlichkeit und Individualität. Wenn sie da nur dem Text begegnet sind auf ein und demselben Lesegerät, dann fehlen Ihnen, der Sie ein Körper in einer körperlichen Welt sind, wesentliche Orientierungsmerkmale. Das können Sie gewiss intellektuell überbrücken, auch wieder je nach dem wie wichtig Ihnen dieser Text ist. Aber es gibt keinen Grund diese Überbrückung anzustreben. Da unterschätzt Ihr Freund die Stabilität des typografischen Systems.
SM
Ich habe noch eine weitere Frage: Welche Funktion hat Schrift für Sie in unserer Gesellschaft?
FF
Sie mit Ihren großen Fragen! Also zunächst einmal völlig unabhängig von Gestaltung oder von Schrift. Selbst wenn wir nur eine einzige Schrift hätten, wären es ohne Interpunktionszeichen 27 Versal-Zeichen oder wie viel auch immer, würde jede Art von Gesellschaft größtenteils auf dieser Schrift beruhen. Eine komplexe Gesellschaft, die Rechtssicherheit und Regeln kennt, Arbeitsteilung und all diese Dinge ist ja ohne Schrift gar nicht denkbar. Und deswegen fragen Sie wirklich nach den Grundlagen der Gesellschaft selbst, die in der Schrift stecken. Alles, was unsere moderne Gesellschaft modern macht, wurde erst durch die Schrift möglich gemacht. Das ist die Grundlage. Aber ich nehme fast an, dass das nicht Ihre Frage ist?
SM
Ich habe ein altes Buchstaben-Buch von Eugen Nerdinger gefunden, das mich sehr fasziniert und würde Ihnen gern ein Zitat vorlesen …
FF
Sagen Sie, dass es nicht ist: „Schrift ist eine sinngebende Ordnung feststehender Zeichen für Denkinhalte.“ Ich erinnere mich, dass ich mir das als Schriftsetzer-Lehrling gemerkt, aber später festgestellt habe, wie wenig dieser Satz eigentlich erklärt (lacht).
SM
Ich habe einen anderen Satz mitgebracht und zwar:
„Die Buchstaben sind sichtbare Sprache • Sie spiegeln unsere erfahrbare Welt wieder, die Schrift überwand Zeit und Raum • Stets aber bleibt sie Gleichnis und Übermittler ferngerichteten Willens.“
Was denken Sie darüber?
FF
Ja, sehr pathetisch ausgedrückt. Man muss jetzt jede einzelne dieser Behauptungen für sich nehmen. Ich würde das zerlegen, um festzustellen, wie weit es uns weiterbringt. Den Ton, den Nerdinger anschlägt, ist auch kein zeitgemäßer Ton mehr. Er sucht das Pathos und die großen integrierenden Gedanken – und beides ist unserer Zeit eher fern, was mir auch nicht ganz unlieb ist.
SM
Dann habe ich noch eine Frage: Was würden Sie jungen Gestaltern und Typografen mitgeben?
FF
Da fällt mir die Antwort schon leichter. Also mitgeben heißt, welchen Rat ich ihnen mitgeben würde?
SM
Genau.
FF
Das sind verschiedene Ratschläge, die am Ende vielleicht doch etwas miteinander zu tun haben. Ein Rat ist, intensiv zu verstehen, in welchen geschichtlichen Zusammenhängen wir uns bewegen. Zu vermeiden, dass man sich als Gestalter in einer banalen Heutigkeit bewegt, die von sich denkt, dass sie die Vollendung der Gestaltung ist. In dem Sinne, dass es nie eine tollere Gestaltung gegeben hätte als jetzt. Das ist ein merkwürdiger Gedanke. In einem gewissen Maße hatten das die meisten Zeiten vor uns auch. Aber, es wird auch eine Zeit danach geben und die Kriterien, die wir für die Beurteilung unserer jetzigen Arbeiten haben, unserer eigenen und die der anderen, können wir nur aus der Geschichte schöpfen. Das können wir entweder unterbewusst tun oder über die Art von Schwarmintelligenz, die eher ein ängstliches Zum-Nachbar-Schielen ist. Das führt dann dazu, dass sich eine solche nervöse Bewegung bemerklich macht, die schaut, wo das scheinbar aktuellste Design gerade ist, welche Metropole oder welche Metropolen gerade die angesagtesten sind und welche Büros. Und wenn die dann jetzt gerade alles in Helvetica-Versalien machen, dann ist das jetzt gerade angesagt. Vom Whiskey-Etikett zur Buchreihe wird dann alles in Helvetica-Versalien gesetzt. Woher kommen dann eigentlich solche Trends? Sind das dann Zufälle oder sind das dann doch Niederschläge bestimmter allgemeiner Stimmungen. Aber wer schlägt das dann nieder? Sind das geschickte Zyniker oder Zufälle? Daraus kann man ganz gut hinaustreten, wenn man der Geschichtlichkeit des eigenen Faches, aber auch des eigenen Wirkens inne wird. Es ist ja auch eine Aufgabe für Gestalter dafür zu sorgen, dass sie die lange Strecke schaffen. Also nicht nur zwei Aufträge und nicht nur 10 Jahre, sondern 40 oder 50 Jahre in dem Job bleiben. Jost Hochuli ist inzwischen Mitte 80 und macht immer noch ganz wunderbare Gestaltung. Und macht das wahrscheinlich seit 60 Jahren. Wie schafft man diese lange Strecke? Das bedeutet nicht, dass sich das eigene Schaffen sehr stark unterscheiden muss, bei Jost Hochuli tut es das zum Beispiel gerade nicht. Aber warum sind seine Sachen so solide? Worauf basiert das? Daher ist das meine Frage an die jungen Gestalter: Woran knüpft ihr denn an? Und wenn die Antwort lautet, dass sie keine Ahnung haben, sage ich ihnen, dass sie diese Ahnung dringend entwickeln sollten. Und das kannst du eigentlich nur, wenn du die Geschichte deines Faches wirklich kennst, wenn ich sowohl ein Buch- oder eine Drucksache aus irgendeinem Jahrhundert, ja besser Jahrzehnt, teilweise Jahrfünft, aus dem Regal oder aus dem Fach nehme oder aus dem digitalen Archiv und dir vorhalte und du kannst sagen: das muss Mitte der 1990er sein, das ist 1580 und das ist 1820. Das muss man können, um wirklich solide gestalten zu können. So, das ist das Eine und das Andere ist, dass dieses Interesse an den Formalien des eigenen Faches ja nur eingebettet sein kann. Nämlich eingebettet in eine Kunst- und Ideengeschichte der jeweiligen Zeit und damit aller Zeiten. Seit Anbeginn des Buchdrucks und eigentlich noch länger, seit der Antike. Kurz: Bildet euch! Aber nicht als Mittel zum Zweck oder um Eure Kunden bei der Präsentation zu überwältigen, sondern weil das zum Verständnis dieser Formalien dazugehört. Sonst dressiert Ihr Euch nur, aber es hat keine Substanz, wenn ihr nicht auch wisst, was in diesen Zeiten politisch passiert ist. Das verhindert dann auch Torheiten, wie etwa die Verurteilung von Fraktur, weil man sie mit etwas gleichsetzt, womit sie überhaupt nichts zu tun hat. Geschichtliche Kenntnisse des eigenen Faches sind sehr wichtig, eine möglichst umfangreiche Bildung. Anregungen können überall herkommen, selbstverständlich aus der Literatur, aus Filmen und Musik oder Tanz und aus Allem, was man sich nur vorstellen kann. Seid da ästhetisch neugierig und bringt es in ein System in eurem Kopf. Das bedeutet nicht, dass ihr Generalisten sein müsst und auf all diesen Gebieten wissenschaftlich tätig. Aber seid interessiert und einigermaßen gewandt.
SM
Ich habe mich gerade bei uns in Hannover mit Kurt Schwitters beschäftigt. Und dabei festgestellt, dass er sehr experimentell mit Schrift umgegangen ist und Schrift gar nicht mehr als Informationsträger gesehen hat, sondern wirklich als Fläche und sie auch experimentell im Raum bewegt hat. Und das in Bleisatzzeiten des Rasters, das dann eingeschlossen werden muss, weil es ja schon sehr experimentell ist.
FF
Das war es ja auch, was man zu seiner Zeit untersuchte. Die neue Typografie untersuchte diese Fragen, der russische Konstruktivismus tat es, der Dadaismus auch. Und Kurt Schwitters war ja auch jemand, der bekanntlich in der Werbung arbeitete und da ausgesprochen viel tat. Der auch diese grafischen Dinge notwendigerweise aufnahm. Und als ein hochbegabter Feuerkopf, der er war, hat er es auch entsprechend umgesetzt.
SM
Ich habe einmal die Kernaussage meines Manifests mitgebracht. Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung an alle, den zweidimensionalen Raum am Monitor zu verlassen, um wieder Schrift im Raum zu erfahren.“
FF
Jetzt wünschen Sie ein Kommentar von mir zu diesem Aufruf?
SM
Ja, was denken Sie darüber?
FF
Bei mir persönlich ist die Gefahr gering, dass ich dieses Hinweises stark bedürfte. Zum einen interessiert mich elektronisches Publizieren gar nicht. Ich selbst betreibe zum Beispiel eine Stadtteil-Internetseite mit vielen Materialien und Texten. Das könnte niemals einen sinnvollen Redaktionsschluss haben und ich mache es schon seit 20 Jahren. Seit 20 Jahren bringen mir Nachbarn neues Material, das ich dann nachschieben kann. Wenn ich das Improvisierte, das diese Internetseite hat, zu einem Buch machen wollte, dann müsste ich ganz anders recherchieren und es müsste solide sein. Daher habe ich für diese Internetseite die Kurier gewählt – eine Schrift die das Unfertige, Skizzenhafte, Manuskriptartige betont. Solche Publikationsformen finde ich durchaus verdienstlich. Ich bin übrigens ein Web 1.0-Romantiker und habe damals wirklich noch zu den Trotteln gehört, die dachten, dass das Internet für mehr Freiheit und Gleichheit sorgen würde und den Kleinen eine Chance gibt und so weiter. Daher ist meine Stadtteil-Internetseite noch eine sozusagen denkmalgeschützte Web 1.0-Nostalgie-Seite. Aber eigentlich interessiert mich die Oberfläche des Bildschirms als Gestaltungsoberfläche nicht. Ich bin nicht an Interfacedesign im Digitalen interessiert, hingegen ist der Bildschirm ein Arbeitsmittel, den ich sehr liebe. Ich trauere der Dunkelkammer und ihren Hin- und Her-Kopierereien, um auch nur geringe grafische Effekte mit Reprokameras und Entwicklern zu erhalten samt ihren chemischen Sauereien und Fixirern und was wir da alles so hatten, überhaupt nicht nach. Aber es ist in diesem Falle eben nur die Zwischenstufe, denn bei mir werden Bücher daraus, Plakate, Ausstellungen, solche Dinge, die alles andere als zweidimensional sind. Und da die Digitalitäten ja auch ihre Chance hatten und nur in kleinen Ausnahmefällen etwas Gutes hervorgebracht haben, schlage ich der Welt vor, deutlich analoger zu werden. Und jede Gelegenheit zu nutzen, das Digitale beiseite zu lassen. So habe ich zum Beispiel weder ein MacBook noch ein Smartphone. Ich sitze nur am Rechner, wenn ich in diesem Raum am Rechner sitze. Woanders kann ich das nicht und will es nicht. Und wenn ich vier Wochen auf Reisen bin, dann habe ich vier Wochen lang keine E-Mail gelesen. Das ist keine digitale Verweigerung. Ich könnte jetzt kein Gestalter in unserer Zeit sein, wenn ich in so einer Art von Trotzhaltung wäre. Darum geht es nicht, aber es ist nicht gut für uns. Ja, ich unterstütze diesen Satz: Lasst uns vom Bildschirm weggehen und ihn als Mittel zum Zweck sehen. Und ansonsten verstehen, dass wir Körper sind in einer körperlichen Welt.
SM
War die haptische Erfahrung in Ihrer SchriftsetzerLehre wichtig für das typografische Verständnis?
FF
Ich würde jetzt gerne „ja“ sagen, weil Ihnen das so gut passen würde und das pädagogisch wertvoll wäre, die Antwort ist aber: Ich weiß es nicht. Ich hatte ganz am Anfang der Lehre etwas mit Blei zu tun. Dann wurde die Bleigasse dort abgeschafft. Und ich habe meine Schriftsetzer-Lehre, noch dazu nach zwei Jahren, abgebrochen. Aber auch diese 24 Monate waren 22 Monate nachdem ich alles gelernt hatte, was ich dort lernen konnte. Denn ich war, wie ich schon angedeutet habe, weitgehend instruktionslos der Maschine ausgesetzt. Was ich dort gelernt habe war zu sehen, dass ich das Handwerk und den Alltag der grafischen Industrie mag und gerne eine laufende Druckmaschine höre und diese ganzen Abläufe mag, die dort so sind. Das eigenverantwortliche Arbeiten mochte ich, weil ich im Grunde keinen wirklichen Ausbilder hatte. Dort habe ich eindeutig selbstständiges Arbeiten gelernt. Aber die Haptik der Buchstaben, mir wäre es sehr lieb gewesen, wenn der Bleisatz auch weitergegangen wäre. Peter Willberg, der Sohn von Hans Peter Willberg, der seinerseits ein hervorragender Buchgestalter und Grafikdesigner geworden ist, arbeitet seit Jahrzehnten in London. Der hat beim Stempel in Frankfurt eine Schriftsetzer-Lehre gemacht – diese Lehre hätte ich gerne gemacht.
SM
Denken Sie, dass durch die Gestaltung am Monitor typografisches Wissen verloren geht? Weil wir uns heute nicht mehr mit der Schrift befassen, wenn wir eine Schrift in ein Layout-Programm, wie InDesign zum Beispiel, reinpacken?
FF
Es ist eher unwahrscheinlich, dass das typografische Wissen jetzt noch verloren geht, denn diese Prozesse sind ja schon abgeschlossen. Man weiß ja nie, wie es weitergeht. Und es ist nicht etwa so, dass ich in den späten 1980er Jahren schon vorhergesehen hätte, dass ich den späten 2010er Jahren des neuen Jahrtausends, fast 30.000 Schnitte auf dem Rechner haben würde. Damals kostete auch ein Digitalschnitt noch 1.000 Mark. Wer fünf Schnitte der Times hatte und fünf Schnitte einer Garamond und noch ein paar Auszeichnungsschriften, der hatte da schon den Wert eines Klein- oder Mittelklasse-Wagens digital oder in Form von Schriftschnitten vorhanden. Das erschien mir doch als eine sehr große Armut, denn wir verloren ja damals durchaus die bestimmten haptischen Qualitäten des Bleisatzes. Ganz ohne Bleisatz-Nostalgie kann man eigentlich als Typograf nicht sein. Das kann ich niemandem abnehmen, dass er nicht, wenn ich jetzt schöne alte Bücher aus dem Regal ziehe und wir diese Solidität sehen: einerseits ihre Einprägung ins Papier und zum anderen auch die Beschränkungen durch das System erleben. Aber auch das, was das System einem gegeben hat: Wir konnten nicht fälschlich winzige und zu hoch stehende Exponenten-Ziffern nehmen – die gab es nicht. Sondern die Exponenten der Schrift, wenn es sie denn gab, waren solide gegossen und hatten dann auch die entsprechende Fette. In die alten Bücher kann man nicht ohne Nostalgie schauen und wir haben da etwas verloren. Aber wir haben auch etwas bekommen, nämlich eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten, die sich jetzt auch nicht in der abstrakten Möglichkeit verliert, die aber nicht wahrgenommen wird, sondern diese Möglichkeiten werden wahrgenommen und angenommen. Ich kenne inzwischen so viele junge Gestalter, die noch schriftmanischer sind als ich, noch mehr Schriften zu erkennen scheinen und noch größere Varianz anstreben. Also an dieser Stelle hat sich eine Begeisterung und ein Leben ergeben, das eine Kompensation ist für die Verluste, die wir durch den Bleisatz haben. Und ich bin sehr dafür, in der Ausbildung über Bleisatz diese Erlebnisse vorzubringen, die Ihnen so wichtig waren, diese Buchstaben anzufassen und auch zu sehen, dass sie ihre Dickten und ihre Kegel und auch ihre Holprigkeiten und ihren Rhythmus haben und diese Sachen. Das typografische System durch Berührung zu verstehen, aber andererseits auch am Bildschirm wirklich Bewandtnis zu haben und sich über die absurde Vielfalt von Schriften zu freuen. Wenn ich eine Schrift auswähle, dann gehe ich von bekannten Typen aus und sagen wir mal das Plumpeste, ich will doch eine gewisse Sachlichkeit der Times, ich will aber nicht die Abgelutschtheit der Times – da fallen mir Schriften ein, wie meinetwegen die Life, die ganz ähnlich ist, aber etwas charaktervoller ist oder die Concorde, die dann eben ein Flair der 1970er Jahre dazu flüstert. Es wäre ja schon vor 20, 25, 30 Jahren schön gewesen diese drei Schriften zu haben. Heutzutage aber kann ich durch die Untersuchung dieses Feldes zwischen der Concorde, die eine sehr sachliche, glatte, Times-artige Schrift wäre und der Life, die ein bisschen knurzelig ist und der Times selbst, die dazwischenliegt, da kann ich auch die Lücken zwischen diesen drei Schriften noch mit Dutzenden Schriften füllen, um die passende Schrift auszuwählen. Eine Schrift, die wie gewünscht genau das Maß an Sachlichkeit und doch Lebendigkeit und einen bestimmten Zeitkolorit und so weiter hat. Das ist das, was uns die Manie von Schriftentwerfern heute schenkt oder zumindest billig verkauft, dass wir diese Wahlmöglichkeiten haben.
SM
Für mich war es sehr spannend mehrere Schränke mit Holzbuchstaben zu finden, die auch keiner benutzt. Die habe ich dann auch manuell unterfüttert und einen Abdruck gemacht, um zu schauen welche Buchstaben es gibt. Dafür gibt es auch ein Messgerät unter das man den Buchstaben vorsichtig schiebt.
FF
Sie meinen die Schattierung, wobei man das ja eigentlich Kolumne für Kolumne machen muss. Sie müssen erstmal Setzen und dann machen Sie den Abzug. Danach mussten Sie damals auf den Abzügen, wie eine Art Höhenlinien-Karte einzeichnen, um auch zwischen dem Satzschiff, in dem Druck und dem Tiegel, in der Druckerei, in der Druckmaschine und diesen kleinen Abweichungen nochmal einen Ausgleich zu erzeugen. Wenn man richtig perfekte Kolumnen in einer vollständigen Schwärzung hat, die auch nicht zu tief eingeprägt sind, so wie ich es hier in einigen typografischen Werken habe, ist das natürlich eine begeisternde Freude. Gerade wenn man weiß, wie die Entstehungsbedingungen waren.
SM
Ja, ich finde es immer sehr schön, vor allem auch dieses haptische Erlebnis beim Lesen zu haben.
FF
Wobei es nicht das Ziel der jeweiligen Zeit war. Es war ja durchaus kein Ideal, dass die Buchstaben so stark ins Papier reinprägen und fast schon Löcher reinreißen. Sondern das Ziel war eine fast unsichtbare, also nicht deutliche Schattierung – das ist das Fachwort für die Rückseite. Hier und in den anderen Etagen dieses Hauses finden Sie schöne Beispiele.
SM
Vielen Dank, Herr Forssman für dieses Interview.
FF
Das Vergnügen war ganz meinerseits.
Lesezeit: 00:34:12
Friedrich Forssman, Kassel
Nachdem Friedrich Forssman und ich auf der Frankfurter Buchmesse ins Gespräch gekommen waren und er Interesse an meiner Arbeit zeigte, verlor ich keine Zeit. Ich schickte ihm eine Mail, in der ich verschiedene Terminvorschläge machte. Gespannt wartete ich auf seine Antwort, welche nicht lange auf sich warten ließ.
In der Zwischenzeit erstellte ich einen Fragenkatalog, welcher dem Interview sowie den zukünftigen Interviews mehr Struktur und einen roten Faden geben sollte. Ich hatte mir von einer Journalistin Feedback geben lassen und gemeinsam haben wir uns das Interview mit Rolf Rehe angehört. Meine Intention dahinter ist es auch, meine Nervosität, darüber ein wenig zu kontrollieren, damit ich trotzdem ein ruhiges Interview führen kann. Nicht nur ein Fragenkatalog ist wichtig dachte ich mir, sondern ebenfalls die Recherche zu der Person Friedrich Forssman selbst.
Während ich die zahlreichen Informationen über ihn las, begann ich mir verschiedene Fragen zu stellen. Gibt es besondere Werke und welche Geschichte steckt hinter diesen? Wie ist die Person zu ihrer Arbeit gekommen? Was fasziniert und inspiriert diese Person an ihrer Arbeit? Welche Erfahrungen wurden gesammelt?
Über Friedrich Forssman fand ich auf seiner Website einen Link zu einem Lexikoneintrag vom SAUR, „Allgemeines Künstlerlexikon“. Dieser Eintrag half mir, die Anfänge dieser Person zu verstehen und nachvollziehen zu können.
Gut vorbereitet, samt Audioequipment und Fragenkatalog, welcher auf Papier geschrieben stand, da Herr Forssman keine Smartphones mag, setzte ich mich am 29.10.2019 um 10:14 Uhr in den ICE nach Kassel-Wilhelmshöhe, wo ich um 11:37 ankam. Vom Bahnhof aus nahm ich voller Energie den steilen Berg in Angriff, an welchem Ende, angrenzend an einen Wald, Forssmans Haus steht. Nach einem kurzen „Hallo“, machten wir es uns in seinem Arbeitszimmer gemütlich. Auf einem kleinen Tisch aus Eichenholz baute ich mein Soundequipment auf. Das Interview startet entspannt, umgeben von literarischen Werken, Büchern und Typografie …
SM
Ich spreche heute mit dem Buchgestalter, Typografen, Gebrauchsgrafiker, Ausstellungsgestalter und Fachautor Friedrich Forssman, der 1982 eine Schriftsetzerlehre in Bamberg und 1985 sein Fachabitur an der Fachhochschule Darmstadt absolvierte. Danach schloss er ein Grafikdesignstudium an der Fachhochschule Mainz bei Hans Peter Willberg ab. Im Jahr 1990 erhielt er das Gutenberg-Stipendium in Mainz. Seitdem gestaltete er viele Klassiker der Weltliteratur.
Hallo Friedrich Forssman, schön, dass Sie hier sind. Woran haben Sie als Letztes gearbeitet?
FF
Die letzte ganz große Sache war eine Ausstellung namens „Lass leuchten, Peter Rühmkorf zum Neunzigsten“, also ein Literatur-Ausstellungsprojekt. Diese Ausstellung läuft aktuell, also seit dem 20. August 2019 bis zum 20. Juli 2020.
SM
Sehr schön. Wo findet sie statt?
FF
Im Altonaer Museum in Hamburg – ein eher lokales Museum. Peter Rühmkorf wird dort auf sehr großer Fläche gefeiert. Er hat in Hamburg den größten Teil seines Lebens verbracht und so haben wir, die Arno-Schmidt-Stiftung, die sich um den Nachlass von Peter Rühmkorf und die Rechte kümmert, dort diesen Platz bekommen, um eine ausgesprochen aufwendige Themenausstellung auszubreiten.
SM
Das hört sich sehr gut an. Ich habe einen kleinen Fragenkatalog mitgebracht und bitte Sie, folgende Sätze zu ergänzen. Typografie war früher …
FF
Früher, was heißt früher? Ich bin mal neugierig, wie wir mit diesen Ergänzungssätzen zurechtkommen werden. Früher definiere ich von der Erfindung der Typografie bis zu der Zeit kurz vor meiner Geburt. Typografie war früher und ist heute ein verblüffend stabiles System, um Sprache in Schriftzeichen umzusetzen und uns auf eine mühelos verständliche Weise zur Verfügung zu stellen.
SM
Ohne Schrift hätte ich niemals …
FF
… das Licht der Welt erblickt, vermutlich. Sich eine Welt ohne Schrift zu denken, hieße sich eine so radikal andere Welt vorzustellen, dass nichts davon so wäre, wie wir es gerade kennen.
SM
Welches Buch begeistert Sie am meisten?
FF
Das ist nicht beantwortbar, jedenfalls nicht zuspitzbar auf ein Buch. In meiner Vorstellung war auch die Rede von Weltliteratur. Ich habe nicht etwa nur Weltliteratur gestaltet, sondern alle möglichen Sorten von Literatur, die ich gestalten durfte, die mir unterbreitet worden sind. Denn ich habe sehr selten etwas abgelehnt. Und die Vielzahl der Bücher ist ja gerade das Erfreuliche. Ich könnte mich nicht auf einen einigermaßen akzeptablen Kanon von Büchern einigen, geschweige denn auf eines.
SM
Hat jedes Buch für Sie eine Art Seele, also einen eigenen Charakter?
FF
Eigenen Charakter – ja. Seele ist ein schwieriger Ausdruck, denn das ist etwas sehr eigenständiges. Nun, was heißt schon jedes Buch? Gehen wir jetzt wieder von Literatur aus? Es gibt ja auch alle möglichen Sorten von Büchern und die haben durchaus sehr, sehr unterschiedliche Charakteristiken. Aber ja, ich wäre nicht gerne Buchgestalter, wenn nicht jedes Buch auch selbstbestimmte Anregungen geben würde, wie es gestaltet sein möchte.
SM
Daraus ergibt sich die Frage, was bedeutet Schrift für Sie?
FF
Das ist eine Frage, die zu beantworten meine bisherigen etwa 35 Jahre Berufstätigkeit nicht ausgereicht haben. Da bin ich neugierig, ob ich es in einigen Sätzen hinbekomme. Peter Rühmkorf bewundere ich unter anderem dafür, dass er auf sehr offene Fragen in Interviews immer sehr geistreich geantwortet hat. (lacht) Ich habe mir immer vorgenommen, dies auch hinzubekommen, aber so weit bin ich noch nicht. Schrift ist für mich so faszinierend, weil die Differenzen zwischen einer Berthold, Bembo und einer Stempel Garamond einerseits sehr gering sind. Die Unterschiede, ja im wahrsten Sinne des Wortes, sind mikroskopisch. Und andererseits sind diese Unterschiede nicht nur für uns Schriftgestalter und Typografen, sondern auch für halbwegs geübte Leser wieder relevant und werden wahrgenommen. Das ist das eine, was mich fasziniert. Sogar Kinder – ich habe es unlängst mit meiner elfjährigen Enkelin ausprobiert – können ganz mühelos sagen, welche Schrift zu welchem Buch passt und haben auch schon die richtigen Vokabeln dafür. Meine Enkelin konnte sagen, dass eine Schrift den Text nicht ernst nimmt oder zu kindlich ist. Dabei reden wir jetzt nicht über Extremfälle, wir reden nicht über Comic Sans und solche Scherzartikel. Sondern wir reden von Schriften, die noch im üblichen Lesespektrum sind. Kinder sehen das trotz der winzigen Unterschiede. Einerseits finde ich also die Varianz in diesem sehr kleinen Spektrum faszinierend. Und andererseits die Varianz in einem Spektrum, dass dann wieder durchaus größer ist. Dass man, trotz der dann wieder erstaunlichen verschiedenen Schriftformen, sehr schnell lernt Fraktur zu lesen. Das Buch „Lesen“ von Stanislas Dehaene erklärt sehr befriedigend, warum diese kleinen und großen Varianzen uns so vorkommen, wie sie uns vorkommen und warum wir gegenüber sehr großen Varianten tolerant sind und gegenüber anderen relativ kleinen Varianten nicht tolerant sind. Es war sehr befriedigend zu lesen und ist für uns Gestalter wichtig zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn es keinen ganz direkten Einfluss auf unsere Arbeit hat. Aber es hat mich immer wieder begeistert festzustellen, wie ein Text sich in dieser subtilen Differenz anders darstellt, wenn man eine nur ein bisschen andere Schrift wählt und wie wichtig solche Entscheidungen sein können, obwohl sie andererseits ja auch sehr stereotypisch sind. Zu sagen, für die Bibel ist TL Documenta eine bessere Schrift als Temporal, bedeutet dann ja auch zu sagen, dass gilt für die ganze Bibel, also für das Alte Testament und für das Neue Testament. Wie kann es sein, dass wir diese kleinen Schriftdifferenzen auf etwas beziehen, das einen so großen und heterogenen Textkorpus darstellt? Aber es geht. Und es ist nicht nur so, dass wir es können und es reizvoll finden, sondern die Leser folgen uns sehr gerne in diesem Spiel.
SM
Am Anfang meines Studiums habe ich mir Ihr Buch „Detailtypografie“ besorgt und mich interessiert es, wie es zu diesem Buch kam.
FF
Zu dem Buch kam es, als ich im Hauptstudium nach Mainz gegangen bin. Denn in Darmstadt habe ich mein Grundstudium absolviert, um dann zu Hans Peter Willberg, dem großartigen Buchgestalter und großartigen Lehrer, nach Mainz zu wechseln. In Darmstadt hatte ich nur außerordentlich schlechte Arbeiten gemacht und hatte in meiner Erinnerung auch Lehrer, die zumindest nicht die Richtigen für mich waren. Es war damals eine, sehr durch Konkurrenz getriebene, Werbeschule. Inzwischen gibt es da hervorragende Lehrer und Unterricht. Für mich war das damals nichts und ich war noch zu Beginn des Hauptstudiums sehr neugierig, ob das Studium das Richtige für mich ist. Die alten Arbeiten habe ich zum Glück alle verbrannt. Hans Peter Willberg hat uns Studenten zu eigenen freien, selbst gewählten Projekt angeleitet, welche wir jede Woche mit ihm besprochen haben. Wir konnten ein Buch gestalten oder irgendetwas mit Typografie und Schrift machen. Ich wählte mir einen Satz aus dem Spätwerk Arno
Schmidts – ein Autor, auf den ich schon als Schriftsetzer-Lehrling von Rolf Bulang einem Freund, gestoßen wurde und dessen vorhandenes Werk ich begeistert vollständig gelesen habe. Das Spätwerk lag damals nicht gesetzt vor, sondern nur in Form von Typoskripten, die in den späten 1960er bis Mitte der 1970er Jahre reproduziert worden waren. Aber in der Form konnte oder wollte ich es nicht lesen, denn es ist nun einmal so, dass Schriftsatz und Typografie das Erscheinungsbild der Literatur ist. Huib van Krimpen zitierend: »Ein Buch ist erst ein Buch, wenn es ein Buch geworden ist.« Das galt im vollen Sinne noch nicht für das Arno Schmidt’sche Spätwerk. Gerade weil es auch formale Extravaganzen enthält, konnte ich beim Lesevorgang das, was das Schreibmaschinenbild hinzugefügt hat, nicht mühelos substrahieren und damit also nicht die Trennlinie klar sehen zwischen dem, was an Arno Schmidts Literatur besonders ist und an dem, was nur an der Darreichungs-Form besonders ist. So fing ich also in diesem fünften Semester an, den Text zu setzen. Ich konnte das ja als gelehrter Schriftsetzer mit dem in der Hochschule herumstehenden Bertholdsatz-System. DTP war noch nicht so weit, die Rechner konnten noch nicht das, was man gebraucht hätte, um richtig guten Schriftsatz zu machen. Es fehlte nicht mehr viel, aber es war noch nicht so weit. Und ich habe an der dortigen Satzmaschine von „Zettel’s Traum“, „Schule der Atheisten“, „Abend mit Goldrand“ und „Julia“ jeweils zehn Seiten gesetzt. Man könnte jetzt ja denken, dass ein Mann, der Schriftsetzer gelernt hat, detailtypografisch gewusst haben wird, was dort zu tun ist. Nichts könnte falscher sein als das, denn in der Schriftsetzer-Lehre hatte ich einen Ausbilder, der selber keine Ahnung von Typografie hatte und nur die Ausbildungsberechtigung und eine Druckerei besaß. Dadurch war ich allein mit einem Schriftsatz-System der Firma Berthold und habe Dinge wie Instrumentenseiten-Etiketten oder Beipackzettel für Medikamente gesetzt. Damals habe ich Typografie und Schriftsatz vollkommen naiv aufgefasst. Wenn beispielsweise Großbuchstaben hintereinander standen, habe ich Großbuchstaben hintereinander getippt, wie auf der Schreibmaschine und hatte erstmal gar kein Sensorium für Details, auch wenn ich alle Handspielereien natürlich ausprobiert habe. So ähnlich fing ich dann auch bei Hans Peter Willberg an, bis ich eines der Schlüsselmomente in meinem Leben hatte, als ich einige Versalien, die bei Arno Schmidt häufig sind, hintereinander getippt hatte, noch dazu in der Schrift Berthold Bembo, die große Versalien hat. Willberg kommentiert es und fragte mich, wie das denn aussähe. Worauf ich gedankenlos sagte, dass man bei Versalien nichts machen könne, sie sähen immer so aus. Daraufhin riet er mir, ich solle sie doch ein bisschen kleiner machen und sie etwas sperren. Das war ein großer biografischer Moment, so trivial das nun klingt. Obwohl ich wusste, dass und wie es funktionierte, bin ich noch nicht selbst auf die Idee gekommen, durch solche Detailmanipulationen dafür zu sorgen, dass die Schrift in einem besseren Rhythmus ist und das Satzbild besser wird. Und so setzte ich dies dann gleich um, war vom Ergebnis entzückt und habe Versuchsreihen angefertigt. Wobei es damals ja noch keine Laserdrucker gab, sondern man dann erstmal auf Fotopapier belichtet hat. Ich habe kleine Reihen gemacht, um zu untersuchen, wie groß und gesperrt Versalien denn nun sein sollten. Dabei habe ich dann auch festgestellt, dass es zu dem Thema sehr wenig Literatur gibt. Ich stieß vor allem auf das Büchlein „Das Detail in der Typografie“ von Jost Hochuli, das wohl Mitte der Achtziger erschienen sein muss. Ansonsten fand ich nicht viel Literatur, in der diese Arten von Details behandelt worden wären. Zunächst einmal machte das nichts. Dass, was ich für Arno Schmidt und sonst so brauchte, das habe ich eben notiert oder ausgetüftelt und arbeitete dann auch an dieser Arno Schmidt-Sache. Die Arno-Schmidt-Stiftung, die es erfreulicherweise gab und gibt, hat mir dann auch schon während des Studiums den Auftrag gegeben diesen Buchsatz über insgesamt etwa 2.000 Seiten nach meinem Abschluss zu setzen. Während ich das machte, gingen meine Notate weiter und ich schaute dann auch in alte Bücher, um zu sehen, wie weit man denn nun Semikola oder Fragezeichen wirklich absperrt und all diese Dinge. Ich habe weiter darüber gestaunt, dass darüber nirgends etwas stand und daher reifte in mir der Plan, irgendwann ein solches Buch zu machen. Einige Jahre später hatte ich meine Tätigkeit gegenüber diesem Arno Schmidt-Satz deutlich ausgeweitet und gründete mit dem kasseler Grafikdesignstudenten Ralf de Jong ein Büro in Kassel. Mit Ralf de Jong, der erfreulicherweise auch ehrgeizig genug für solche Projekte war, hatte ich nun auch einen Austauschpartner für das Buch, zu dem er natürlich auch Kapitel beigetragen hat. Der Kristallisations-Keim ist sicherlich aus meiner Detail-Manie in der Arbeit mit Texten von Arno Schmidt entstanden. Aber natürlich würde es ohne Ralf de Jong dieses Buch auch nicht geben.
SM
Also hat diese Zeit dann auch ein kompaktes zusammengeführtes Nachschlagewerk benötigt?
FF
Diese Zeit hat das benötigt und es verkauft sich auch heute recht gut. Und das, obwohl es in einigen technischen Hinweisen auch nicht sonderlich aktuell ist, aber offenbar ist das nicht so schlimm. Man kann das dann ja auch auf Aktuelles übertragen. Es ist ein Buch, das auf 400 Seiten grundsätzlich alles abhandelt, was in einer Satzzeile so passieren kann. In manchen Fällen auch über die Satzzeile hinaus. Aber ich denke, der Erfolg des Buches liegt darin, dass es wirklich Auskunft über alle möglichen großen und kleinen Fragen gibt.
SM
Ich finde, es ist eine Typografie-Bibel. Das Nachschlagewerk, wenn ich irgendwas wissen muss.
FF
Ich denke auch, dass es eine ganz wichtige Funktion von Detailtypografie ist, die Augen desjenigen zu öffnen, der dafür empfänglich ist. So wie damals Hans Peter Willberg bei mir durch diesen einen Satz, etwas mit den Versalien zu machen, damit sie nicht so schlecht aussehen – durch diesen einen Satz purzelte alles andere so nach. Und ebenso wird Detailtypografie sicherlich den Effekt haben, dass Leute sehen, dass es diese Ebene des Umgangs mit Schrift überhaupt gibt. Dann muss man auch nicht unbedingt die ganze Zeit darin nachschlagen, sondern man lernt die Augen dafür zu öffnen. Ganz viele Leser wissen einerseits sehr viel über Schrift. Da hatte ich ja das Beispiel dieser Eignungsunterschiede genannt, denn Literarizität und solche komplexen Eigenschaften kann man der Schrift ja leicht zuweisen. Andererseits weiß auch ein gebildeter Leser keineswegs auf welcher Seite das „A“ fett ist, nämlich nicht links, sondern rechts und der Querbalken auch nicht. Wenn man den Leuten einmal die Augen dafür geöffnet hat, dann sehen sie es zukünftig auch. Und das Gleiche gilt für Spationierungen und alle Arten typografischer Späße.
SM
Das finde ich sehr interessant. Ich habe mich mit der Geschichte der Schrift befasst und auch mit den Schriftsätzen und damaligen Gebrauchsgrafikern. Ich habe festgestellt, dass zu Beginn des Wandels vom Analogen zum Digitalen, also vom Schriftsetzer zum Gebrauchsgrafiker, sehr viel experimentiert wurde. Meinen Sie, dass dabei auch typografische Defizite aufgetaucht sind?
FF
Das sehe ich aus einer anderen Perspektive, denn einerseits freut man sich doch über jeden Dilettanten. Auch ein Konzertviolinist freut sich über ein paar Leute, die im stillen Kämmerlein ein Streichquartett gründen, auch wenn es quietscht und die Einsätze nicht stimmen, trotzdem sind das grundsätzlich die Leute, die das Gleiche interessiert wie man selbst. Zweitens werden diese Leute die CDs kaufen, die man selbst produziert. Also da ist der Wunsch nach Überheblichkeit ausgesprochen unterentwickelt. Darüber hinaus kann man in sehr vielen Zeiten irgendwelche Defizite der Typografie nachweisen. Auch das ist eine Frage des Blicks. Wir könnten jetzt einige Bücher aus dem Regal ziehen, die ich da leider nicht drinstehen habe. Bücher, die geradezu reflexhaft fetischisiert werden, beispielsweise „Hypnerotomachia Poliphili“ von Aldus Manutius. Oder der „Italienische Karneval“ von Goethe in diesem fetischisierten Druck. Da kann man jeweils sagen, was daran so wunderschön ist. Man kann aber auch sagen, an welchen Stellen es auch etwas unbeholfene Drucke sind. Die große Frage, die sich stellt, lautet: Stimmt das Ganze? Im Falle der beiden genannten Drucke stimmt das Ganze natürlich in hervorragendem Maße. Und auch sonst sind mir Dinge, die mit Herz und Verstand und mit einem guten Auge gemacht sind, aber bestimmte Könnerschaften nicht aufweisen, allemal lieber als ein perfektes, glattes Ergebnis, das aber seelenlos ist. Zum Glück haben wir es inzwischen mit sehr vielen Sachen zu tun, die all das gleichzeitig enthalten, sowohl große Könnerschaft im Großen und im Kleinen als auch Begeisterung und Seele. Aber ja, bei dieser Medienbruch-Zeit gab es schon durchaus die ein oder andere amüsant schroffe Bruchlinie. Es war damals auch durchaus eine Mode den Verlust zu beklagen, dass die alten Schriftsetzer aussterben und nun nur noch Nichtskönner an Computern sitzen. Nicht ganz falsch, aber wenn wir die Bücher aus der damaligen Zeit aus dem Regal ziehen, sieht der Schriftsatz eigentlich alles in allem immer noch ganz gut aus.
SM
Ich habe aus dem Buchdruck Museum in Hannover ein kleines Buch mitgebracht, das mir sehr geholfen hat. Und zwar „Das Jägerlatein der Schwarzen Kunst“, welches ein paar Fachbegriffe zu Schriftsetzer-Zeiten erläutert. Was ist Ihr erster Eindruck von dem Buch?
FF
Es ist ein amüsantes, ganz sympathisches Ding. Einerseits erfrischend, andererseits auch auf den ersten Blick durchaus etwas befremdend, da es so gar nicht den Designer-Bräuchen und Coolheits-Wettbewerben folgt, die durchaus auch schon im Jahr 1919, als das Buch offenbar erschien, üblich waren, sondern sich diesen Tendenzen verweigert. Das gibt bei mir eindeutige Sympathie-Punkte. Diese Arten von kleinen Dissidenzen, denn auch und gerade wir Designer tun ja so, als wären wir große Kämpfer für Verschiedenheiten und Gerechtigkeiten, bestrafen aber sehr schnell kleine oder auch nur formale Abweichungen sehr stark und tun so, als könnte man mit solchen Leuten gar nicht sprechen. Hier setzt sich jemand für Fraktur ein – mir natürlich schon mal grundsätzlich sympathisch. Und …
SM
War am Anfang auch nicht ganz einfach zu lesen, aber mittlerweile komme ich ganz gut rein.
FF
Ich hätte jetzt gedacht, man braucht zwei Seiten und dann sieht man nicht mehr, dass es Fraktur ist. Ging das nicht so schnell?
SM
Nein, ich habe das wirklich noch gelernt.
FF
Ich erinnere mich nicht, Fraktur gelernt zu haben. Ich habe schon als Vorschulkind Fraktur und Antiqua gleich mühelos gelesen und bin auch ausgesprochen beglückt darüber, dass die Fraktur nun wieder in ihr Recht gerückt wird und wir sie nicht historisch für etwas verurteilen, woran eine Schrift ohnehin nicht Schuld sein kann. Die Fraktur kann schon gar nicht an den Abscheulichkeiten der Nazi-Zeit Schuld haben. Und dass jetzt auch speziell junge Schriftdesigner und Grafikdesigner der Fraktur zumindest wieder eine Nische lassen, dass ist mir sehr lieb. Und so hat diese Publikation meine Sympathie. Nachdem ich das alles so geäußert habe, muss ich sagen, dass es auch nicht die größte gestalterische Leistung ist, die ich je in den Händen gehalten habe.
SM
Ich finde es auf jeden Fall ganz interessant, weil es humorvoll beschreibt, wo die ganzen Fachbegriffe herkommen. Ich schreibe ja aktuell als meine Bachelorarbeit das »typografische Manifest.« und hab Ihnen daraus eine These mitgebracht: „Schrift ist Funktion.“
FF
Aha, in Form einer Guss-Zeile.
SM
Genau, gesetzt auf einer Linotype.
FF
In der Stempel Garamond?
SM
In Excelsior …
FF
Ohne Lesebrille auf Armlänge dachte ich, ich mache mal einen Schuss ins Blaue oder in die Wolken. Sehr kleine Wortwahl.
SM
Die Excelsior in 7pt.
FF
Ja, für meine gealterten Augen eindeutig, aber es ist eine Antiqua und sie steht gerade. Das ist jetzt Ihre Grundthese des Manifests?
SM
Das ist eine Grundthese von fünf und ich würde Sie gerne fragen, was Sie über den Satz: „Schrift ist Funktion“ denken.
FF
Dieser Satz erfüllt mich erstmal mit einer beachtlichen Skepsis. Schrift ist Funktion. Das ist erstmal eine Gleichstellung, die doch mehr Fragen aufwirft. Möchten Sie damit sagen, dass Schrift eine so lange Evolution mitgemacht hat bis sie eine Hochform, ein rein funktionales Etwas geworden ist? Sie könnten ebenso gut alle möglichen Erscheinungsformen des Lebens in der Form mit Funktion gleichsetzen. Kleidung ist Funktion oder Gesellschaft ist Funktion oder Architektur ist Funktion. In all diesen Fällen erscheint es mir, als müsste da mehr behauptet werden, damit wirklich Funken fliegen können.
SM
Mein Gedanke dabei ist, dass Schrift immer zweckgebunden ist. Schrift kommt ja von der Schreibschrift, wird dann über Gutenberg durch die Buchstaben anonymisiert und hat am Ende nur eine Funktion zu erfüllen. Das finde ich vor allem in Bezug auf lesbare Schrift sehr wichtig, dass sie auch wirklich ihre Funktion zu erfüllen hat, gerade bei großen Plakaten etc., bei denen auch Informationen wahrgenommen werden müssen.
FF
Gegenüber Ihrer kurzen Darstellung, dass Schrift erst unter Gutenberg anonym wurde, möchte ich schon eine gewisse Skepsis anmelden. Eine Handschrift ist immer einigermaßen individuell, ja. Aber so war die ja nun keineswegs gemeint, sondern die Schreiber hatten eine sehr präzise formale Ausbildung. Es ging ihnen gerade nicht darum, ihre Individualität kaligrafisch auszudrücken, sondern Vorbildern sehr sachlich zu folgen. Die allerwenigsten Schreibernamen sind uns noch bekannt. Und es wäre einem Schreiber nicht in den Sinn gekommen, sein Werk zu signieren. Also da ziehe ich keinen geringeren oder höheren Anonymitäts-Wert als in den ersten Drucken, die ja die Handschrift nachgeahmt haben. Ich weiß nicht, ob dieser Forschungsstand überholt ist, aber es hieß, dass Gutenberg mit seiner 42-zeiligen Bibel die Handschrift sogar nachahmen wollte.
„Gutenberg mußte die herkömmlichen edlen Handschriften nachahmen, wenn er mit der ‚Kunst des künstlichen Schreibens‘ Erfolg haben wollte. Nur das Vollkommene galt. So wirkten seine Drucke wie Handschriften, und nur geübte Augen konnten erkennen, daß es sich um Druckwerke handelte.“
Dass er so tun wollte, als würde er handschriftliche Werke vertreiben. Es ist gerade zum ersten Mal seit 90 Jahren wieder ein erschöpfendes Kompendium zu Inkunabeln erschienen. Zu Ihrer These würde ich die Anonymität hinterfragen und das Wort Funktion ist kein Wort, das allein unendlich viel aussagt. Gerade im Zusammenhang mit Gestaltung hat das Wort „Funktion“ allerhand Verwirrung angerichtet. Ich denke kein Gestaltungs-Zitat wird öfter in den Mund genommen als „Form follows function“. Und Sullivan hat es, wie ich ironisch hinzufüge, bekanntlich in einem Kontext gebraucht, der nicht mit zitiert wird, und der diese Funktion genau nicht als eine vulgär-physiologische Funktion sieht. Sondern er spricht in seinem „Form follows function“ von Gebäuden und bringt zum Ausdruck, dass ein Bürogebäude einfach aussehen soll wie ein Bürogebäude. Dass also die Form die Funktion darstellen soll. Und so betont er also ausdrücklich die soziale Funktion eines Gebäudes, des Äußeren eines Gebäudes. Und sehr häufig oder ausschließlich wird das Zitat im Sinne einer Vulgär-Funktionalisierung benutzt. Es muss erstmal praktisch sein und dann ist es auch schon fertig. Und wenn wir dann noch irgendwelche dekorativen oder historischen Elemente oder Elemente, die auf einen bestimmten Kontext verweisen hinzufügen, haben wir ja die Funktionalität gestört. Das ist ein großes Missverständnis. Und so ist auch Schrift eindeutig hoch funktional, hat aber auch einige unaustilgbare Dinge, die überhaupt nicht funktional sind. Das Schriftsystem ist bekanntlich hoch funktional, wir alle haben diesen komplexen Vorgang des Lesens gelernt, was auch erstaunlich schnell geht. Es ist fast so als hätten wir so eine Art von genetischer Prädisposition ausgerechnet zu diesem komplexen Vorgang, Laute in Symbolen nachzuahmen. Andererseits gibt es auch in der historisch entstandenen Schrift bekanntlich viele Elemente, die sich jeder Reform verweigern, also die Ähnlichkeit des Versal-Is mit dem kleinen l, bestimmte Zeichen, die kollidieren, die große Überhänge haben, Dinge, die zum Teil im Bleisatz sehr lästig waren, die aber nie reformiert wurden. Also auch dort, wo die Schrift dysfunktional ist, hat sich die Tradition als stärker erwiesen. Was heißt dann Schrift ist Funktion? Wir müssen diese Frage zerlegen.
SM
Ich bin im Gespräch mit meinem WG-Mitbewohner, der Philosophie studiert und sehr viele Bücher liest, auf diese These gestoßen. Er ist der Meinung, dass ihm egal ist, welche Schrift in den Büchern verwendet wird. Ich habe ihn auf die gute Lesbarkeit der Schrift hingewiesen, damit er die Informationen aus den Büchern möglichst schnell wahrnehmen kann. Und so bin ich auf die These der guten Lesbarkeit, der Schrift als Funktion gestoßen.
FF
Ja, fast alle Bücher oder sogar alle Bücher, die ihr Freund vorfindet, sind ja gut gesetzt. Er kommt eher selten zu einem Text, auf den das nicht zutrifft. Und wenn das wiederum der Fall ist, dann nehmen wir mal an, er hat ein Skript und das ist ein faszinierender Text, liegt ihm aber nur als ein Ausdruck in, meinetwegen Kurier, vor. Wenn der Text interessant genug ist, ist der Leser-Ansporn groß genug, um das zu überbrücken und zum anderen sind es Produktionsbedingungen, denen er wiederum intuitiv zustimmt und die er versteht. Wenn er als Philosoph wiederum einen 500-Seiten-Band von Hegel, Kant oder Aristoteles vorfände, der in 7pt Kurier gesetzt wäre, dann würde er das äußerst ungern lesen. Und würde keineswegs sagen, dass ihm das Einzelne egal sei, solange doch die Information drinsteckt und die vertrauten Zeichenformen benutzt werden. Er wäre äußerst konsterniert. Nein, bei seinem Durchpflügen von Büchern – was mich für ihn und das Fortkommen der Menschheit nur freut –, kommen ihm sogar Dinge zugute, von denen er noch weniger weiß, dass sie gut gemacht sind. Allein der Umstand, dass es ein Buch ist, sorgt dafür, dass er sich topografisch orientiert und erinnert. Also jeder einigermaßen solide Leser weiß zum Teil nach 20 Jahren noch, dass in diesem Buch eine bestimmte Stelle relativ weit hinten und zwar rechts unten auf der Seite ganz interessant war.
SM
Das ist sehr interessant, weil er aktuell sehr viele Paper liest, die nur online, digital als PDF, verfügbar sind. Bei den anderen Büchern markiert er sich Sachen mit dem Bleistift und kann genau sagen und zitieren aus welchem Buch, was, welcher Satz war.
FF
Weil dieses Buch auch als ein Körper mit seinen Eigenheiten vor uns getreten ist. Es war dieses große Blaue mit dem rauen Einband und dieser bisschen erdigen Schrift. Auch wenn wir das alles gar nicht mehr wissen, begegnen wir den Büchern und auf diese Weise haben sie auch Körperlichkeit und Individualität. Wenn sie da nur dem Text begegnet sind auf ein und demselben Lesegerät, dann fehlen Ihnen, der Sie ein Körper in einer körperlichen Welt sind, wesentliche Orientierungsmerkmale. Das können Sie gewiss intellektuell überbrücken, auch wieder je nach dem wie wichtig Ihnen dieser Text ist. Aber es gibt keinen Grund diese Überbrückung anzustreben. Da unterschätzt Ihr Freund die Stabilität des typografischen Systems.
SM
Ich habe noch eine weitere Frage: Welche Funktion hat Schrift für Sie in unserer Gesellschaft?
FF
Sie mit Ihren großen Fragen! Also zunächst einmal völlig unabhängig von Gestaltung oder von Schrift. Selbst wenn wir nur eine einzige Schrift hätten, wären es ohne Interpunktionszeichen 27 Versal-Zeichen oder wie viel auch immer, würde jede Art von Gesellschaft größtenteils auf dieser Schrift beruhen. Eine komplexe Gesellschaft, die Rechtssicherheit und Regeln kennt, Arbeitsteilung und all diese Dinge ist ja ohne Schrift gar nicht denkbar. Und deswegen fragen Sie wirklich nach den Grundlagen der Gesellschaft selbst, die in der Schrift stecken. Alles, was unsere moderne Gesellschaft modern macht, wurde erst durch die Schrift möglich gemacht. Das ist die Grundlage. Aber ich nehme fast an, dass das nicht Ihre Frage ist?
SM
Ich habe ein altes Buchstaben-Buch von Eugen Nerdinger gefunden, das mich sehr fasziniert und würde Ihnen gern ein Zitat vorlesen …
FF
Sagen Sie, dass es nicht ist: „Schrift ist eine sinngebende Ordnung feststehender Zeichen für Denkinhalte.“ Ich erinnere mich, dass ich mir das als Schriftsetzer-Lehrling gemerkt, aber später festgestellt habe, wie wenig dieser Satz eigentlich erklärt (lacht).
SM
Ich habe einen anderen Satz mitgebracht und zwar:
„Die Buchstaben sind sichtbare Sprache • Sie spiegeln unsere erfahrbare Welt wieder, die Schrift überwand Zeit und Raum • Stets aber bleibt sie Gleichnis und Übermittler ferngerichteten Willens.“
Was denken Sie darüber?
FF
Ja, sehr pathetisch ausgedrückt. Man muss jetzt jede einzelne dieser Behauptungen für sich nehmen. Ich würde das zerlegen, um festzustellen, wie weit es uns weiterbringt. Den Ton, den Nerdinger anschlägt, ist auch kein zeitgemäßer Ton mehr. Er sucht das Pathos und die großen integrierenden Gedanken – und beides ist unserer Zeit eher fern, was mir auch nicht ganz unlieb ist.
SM
Dann habe ich noch eine Frage: Was würden Sie jungen Gestaltern und Typografen mitgeben?
FF
Da fällt mir die Antwort schon leichter. Also mitgeben heißt, welchen Rat ich ihnen mitgeben würde?
SM
Genau.
FF
Das sind verschiedene Ratschläge, die am Ende vielleicht doch etwas miteinander zu tun haben. Ein Rat ist, intensiv zu verstehen, in welchen geschichtlichen Zusammenhängen wir uns bewegen. Zu vermeiden, dass man sich als Gestalter in einer banalen Heutigkeit bewegt, die von sich denkt, dass sie die Vollendung der Gestaltung ist. In dem Sinne, dass es nie eine tollere Gestaltung gegeben hätte als jetzt. Das ist ein merkwürdiger Gedanke. In einem gewissen Maße hatten das die meisten Zeiten vor uns auch. Aber, es wird auch eine Zeit danach geben und die Kriterien, die wir für die Beurteilung unserer jetzigen Arbeiten haben, unserer eigenen und die der anderen, können wir nur aus der Geschichte schöpfen. Das können wir entweder unterbewusst tun oder über die Art von Schwarmintelligenz, die eher ein ängstliches Zum-Nachbar-Schielen ist. Das führt dann dazu, dass sich eine solche nervöse Bewegung bemerklich macht, die schaut, wo das scheinbar aktuellste Design gerade ist, welche Metropole oder welche Metropolen gerade die angesagtesten sind und welche Büros. Und wenn die dann jetzt gerade alles in Helvetica-Versalien machen, dann ist das jetzt gerade angesagt. Vom Whiskey-Etikett zur Buchreihe wird dann alles in Helvetica-Versalien gesetzt. Woher kommen dann eigentlich solche Trends? Sind das dann Zufälle oder sind das dann doch Niederschläge bestimmter allgemeiner Stimmungen. Aber wer schlägt das dann nieder? Sind das geschickte Zyniker oder Zufälle? Daraus kann man ganz gut hinaustreten, wenn man der Geschichtlichkeit des eigenen Faches, aber auch des eigenen Wirkens inne wird. Es ist ja auch eine Aufgabe für Gestalter dafür zu sorgen, dass sie die lange Strecke schaffen. Also nicht nur zwei Aufträge und nicht nur 10 Jahre, sondern 40 oder 50 Jahre in dem Job bleiben. Jost Hochuli ist inzwischen Mitte 80 und macht immer noch ganz wunderbare Gestaltung. Und macht das wahrscheinlich seit 60 Jahren. Wie schafft man diese lange Strecke? Das bedeutet nicht, dass sich das eigene Schaffen sehr stark unterscheiden muss, bei Jost Hochuli tut es das zum Beispiel gerade nicht. Aber warum sind seine Sachen so solide? Worauf basiert das? Daher ist das meine Frage an die jungen Gestalter: Woran knüpft ihr denn an? Und wenn die Antwort lautet, dass sie keine Ahnung haben, sage ich ihnen, dass sie diese Ahnung dringend entwickeln sollten. Und das kannst du eigentlich nur, wenn du die Geschichte deines Faches wirklich kennst, wenn ich sowohl ein Buch- oder eine Drucksache aus irgendeinem Jahrhundert, ja besser Jahrzehnt, teilweise Jahrfünft, aus dem Regal oder aus dem Fach nehme oder aus dem digitalen Archiv und dir vorhalte und du kannst sagen: das muss Mitte der 1990er sein, das ist 1580 und das ist 1820. Das muss man können, um wirklich solide gestalten zu können. So, das ist das Eine und das Andere ist, dass dieses Interesse an den Formalien des eigenen Faches ja nur eingebettet sein kann. Nämlich eingebettet in eine Kunst- und Ideengeschichte der jeweiligen Zeit und damit aller Zeiten. Seit Anbeginn des Buchdrucks und eigentlich noch länger, seit der Antike. Kurz: Bildet euch! Aber nicht als Mittel zum Zweck oder um Eure Kunden bei der Präsentation zu überwältigen, sondern weil das zum Verständnis dieser Formalien dazugehört. Sonst dressiert Ihr Euch nur, aber es hat keine Substanz, wenn ihr nicht auch wisst, was in diesen Zeiten politisch passiert ist. Das verhindert dann auch Torheiten, wie etwa die Verurteilung von Fraktur, weil man sie mit etwas gleichsetzt, womit sie überhaupt nichts zu tun hat. Geschichtliche Kenntnisse des eigenen Faches sind sehr wichtig, eine möglichst umfangreiche Bildung. Anregungen können überall herkommen, selbstverständlich aus der Literatur, aus Filmen und Musik oder Tanz und aus Allem, was man sich nur vorstellen kann. Seid da ästhetisch neugierig und bringt es in ein System in eurem Kopf. Das bedeutet nicht, dass ihr Generalisten sein müsst und auf all diesen Gebieten wissenschaftlich tätig. Aber seid interessiert und einigermaßen gewandt.
SM
Ich habe mich gerade bei uns in Hannover mit Kurt Schwitters beschäftigt. Und dabei festgestellt, dass er sehr experimentell mit Schrift umgegangen ist und Schrift gar nicht mehr als Informationsträger gesehen hat, sondern wirklich als Fläche und sie auch experimentell im Raum bewegt hat. Und das in Bleisatzzeiten des Rasters, das dann eingeschlossen werden muss, weil es ja schon sehr experimentell ist.
FF
Das war es ja auch, was man zu seiner Zeit untersuchte. Die neue Typografie untersuchte diese Fragen, der russische Konstruktivismus tat es, der Dadaismus auch. Und Kurt Schwitters war ja auch jemand, der bekanntlich in der Werbung arbeitete und da ausgesprochen viel tat. Der auch diese grafischen Dinge notwendigerweise aufnahm. Und als ein hochbegabter Feuerkopf, der er war, hat er es auch entsprechend umgesetzt.
SM
Ich habe einmal die Kernaussage meines Manifests mitgebracht. Das »typografische Manifest.« ist eine Aufforderung an alle, den zweidimensionalen Raum am Monitor zu verlassen, um wieder Schrift im Raum zu erfahren.“
FF
Jetzt wünschen Sie ein Kommentar von mir zu diesem Aufruf?
SM
Ja, was denken Sie darüber?
FF
Bei mir persönlich ist die Gefahr gering, dass ich dieses Hinweises stark bedürfte. Zum einen interessiert mich elektronisches Publizieren gar nicht. Ich selbst betreibe zum Beispiel eine Stadtteil-Internetseite mit vielen Materialien und Texten. Das könnte niemals einen sinnvollen Redaktionsschluss haben und ich mache es schon seit 20 Jahren. Seit 20 Jahren bringen mir Nachbarn neues Material, das ich dann nachschieben kann. Wenn ich das Improvisierte, das diese Internetseite hat, zu einem Buch machen wollte, dann müsste ich ganz anders recherchieren und es müsste solide sein. Daher habe ich für diese Internetseite die Kurier gewählt – eine Schrift die das Unfertige, Skizzenhafte, Manuskriptartige betont. Solche Publikationsformen finde ich durchaus verdienstlich. Ich bin übrigens ein Web 1.0-Romantiker und habe damals wirklich noch zu den Trotteln gehört, die dachten, dass das Internet für mehr Freiheit und Gleichheit sorgen würde und den Kleinen eine Chance gibt und so weiter. Daher ist meine Stadtteil-Internetseite noch eine sozusagen denkmalgeschützte Web 1.0-Nostalgie-Seite. Aber eigentlich interessiert mich die Oberfläche des Bildschirms als Gestaltungsoberfläche nicht. Ich bin nicht an Interfacedesign im Digitalen interessiert, hingegen ist der Bildschirm ein Arbeitsmittel, den ich sehr liebe. Ich trauere der Dunkelkammer und ihren Hin- und Her-Kopierereien, um auch nur geringe grafische Effekte mit Reprokameras und Entwicklern zu erhalten samt ihren chemischen Sauereien und Fixirern und was wir da alles so hatten, überhaupt nicht nach. Aber es ist in diesem Falle eben nur die Zwischenstufe, denn bei mir werden Bücher daraus, Plakate, Ausstellungen, solche Dinge, die alles andere als zweidimensional sind. Und da die Digitalitäten ja auch ihre Chance hatten und nur in kleinen Ausnahmefällen etwas Gutes hervorgebracht haben, schlage ich der Welt vor, deutlich analoger zu werden. Und jede Gelegenheit zu nutzen, das Digitale beiseite zu lassen. So habe ich zum Beispiel weder ein MacBook noch ein Smartphone. Ich sitze nur am Rechner, wenn ich in diesem Raum am Rechner sitze. Woanders kann ich das nicht und will es nicht. Und wenn ich vier Wochen auf Reisen bin, dann habe ich vier Wochen lang keine E-Mail gelesen. Das ist keine digitale Verweigerung. Ich könnte jetzt kein Gestalter in unserer Zeit sein, wenn ich in so einer Art von Trotzhaltung wäre. Darum geht es nicht, aber es ist nicht gut für uns. Ja, ich unterstütze diesen Satz: Lasst uns vom Bildschirm weggehen und ihn als Mittel zum Zweck sehen. Und ansonsten verstehen, dass wir Körper sind in einer körperlichen Welt.
SM
War die haptische Erfahrung in Ihrer SchriftsetzerLehre wichtig für das typografische Verständnis?
FF
Ich würde jetzt gerne „ja“ sagen, weil Ihnen das so gut passen würde und das pädagogisch wertvoll wäre, die Antwort ist aber: Ich weiß es nicht. Ich hatte ganz am Anfang der Lehre etwas mit Blei zu tun. Dann wurde die Bleigasse dort abgeschafft. Und ich habe meine Schriftsetzer-Lehre, noch dazu nach zwei Jahren, abgebrochen. Aber auch diese 24 Monate waren 22 Monate nachdem ich alles gelernt hatte, was ich dort lernen konnte. Denn ich war, wie ich schon angedeutet habe, weitgehend instruktionslos der Maschine ausgesetzt. Was ich dort gelernt habe war zu sehen, dass ich das Handwerk und den Alltag der grafischen Industrie mag und gerne eine laufende Druckmaschine höre und diese ganzen Abläufe mag, die dort so sind. Das eigenverantwortliche Arbeiten mochte ich, weil ich im Grunde keinen wirklichen Ausbilder hatte. Dort habe ich eindeutig selbstständiges Arbeiten gelernt. Aber die Haptik der Buchstaben, mir wäre es sehr lieb gewesen, wenn der Bleisatz auch weitergegangen wäre. Peter Willberg, der Sohn von Hans Peter Willberg, der seinerseits ein hervorragender Buchgestalter und Grafikdesigner geworden ist, arbeitet seit Jahrzehnten in London. Der hat beim Stempel in Frankfurt eine Schriftsetzer-Lehre gemacht – diese Lehre hätte ich gerne gemacht.
SM
Denken Sie, dass durch die Gestaltung am Monitor typografisches Wissen verloren geht? Weil wir uns heute nicht mehr mit der Schrift befassen, wenn wir eine Schrift in ein Layout-Programm, wie InDesign zum Beispiel, reinpacken?
FF
Es ist eher unwahrscheinlich, dass das typografische Wissen jetzt noch verloren geht, denn diese Prozesse sind ja schon abgeschlossen. Man weiß ja nie, wie es weitergeht. Und es ist nicht etwa so, dass ich in den späten 1980er Jahren schon vorhergesehen hätte, dass ich den späten 2010er Jahren des neuen Jahrtausends, fast 30.000 Schnitte auf dem Rechner haben würde. Damals kostete auch ein Digitalschnitt noch 1.000 Mark. Wer fünf Schnitte der Times hatte und fünf Schnitte einer Garamond und noch ein paar Auszeichnungsschriften, der hatte da schon den Wert eines Klein- oder Mittelklasse-Wagens digital oder in Form von Schriftschnitten vorhanden. Das erschien mir doch als eine sehr große Armut, denn wir verloren ja damals durchaus die bestimmten haptischen Qualitäten des Bleisatzes. Ganz ohne Bleisatz-Nostalgie kann man eigentlich als Typograf nicht sein. Das kann ich niemandem abnehmen, dass er nicht, wenn ich jetzt schöne alte Bücher aus dem Regal ziehe und wir diese Solidität sehen: einerseits ihre Einprägung ins Papier und zum anderen auch die Beschränkungen durch das System erleben. Aber auch das, was das System einem gegeben hat: Wir konnten nicht fälschlich winzige und zu hoch stehende Exponenten-Ziffern nehmen – die gab es nicht. Sondern die Exponenten der Schrift, wenn es sie denn gab, waren solide gegossen und hatten dann auch die entsprechende Fette. In die alten Bücher kann man nicht ohne Nostalgie schauen und wir haben da etwas verloren. Aber wir haben auch etwas bekommen, nämlich eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten, die sich jetzt auch nicht in der abstrakten Möglichkeit verliert, die aber nicht wahrgenommen wird, sondern diese Möglichkeiten werden wahrgenommen und angenommen. Ich kenne inzwischen so viele junge Gestalter, die noch schriftmanischer sind als ich, noch mehr Schriften zu erkennen scheinen und noch größere Varianz anstreben. Also an dieser Stelle hat sich eine Begeisterung und ein Leben ergeben, das eine Kompensation ist für die Verluste, die wir durch den Bleisatz haben. Und ich bin sehr dafür, in der Ausbildung über Bleisatz diese Erlebnisse vorzubringen, die Ihnen so wichtig waren, diese Buchstaben anzufassen und auch zu sehen, dass sie ihre Dickten und ihre Kegel und auch ihre Holprigkeiten und ihren Rhythmus haben und diese Sachen. Das typografische System durch Berührung zu verstehen, aber andererseits auch am Bildschirm wirklich Bewandtnis zu haben und sich über die absurde Vielfalt von Schriften zu freuen. Wenn ich eine Schrift auswähle, dann gehe ich von bekannten Typen aus und sagen wir mal das Plumpeste, ich will doch eine gewisse Sachlichkeit der Times, ich will aber nicht die Abgelutschtheit der Times – da fallen mir Schriften ein, wie meinetwegen die Life, die ganz ähnlich ist, aber etwas charaktervoller ist oder die Concorde, die dann eben ein Flair der 1970er Jahre dazu flüstert. Es wäre ja schon vor 20, 25, 30 Jahren schön gewesen diese drei Schriften zu haben. Heutzutage aber kann ich durch die Untersuchung dieses Feldes zwischen der Concorde, die eine sehr sachliche, glatte, Times-artige Schrift wäre und der Life, die ein bisschen knurzelig ist und der Times selbst, die dazwischenliegt, da kann ich auch die Lücken zwischen diesen drei Schriften noch mit Dutzenden Schriften füllen, um die passende Schrift auszuwählen. Eine Schrift, die wie gewünscht genau das Maß an Sachlichkeit und doch Lebendigkeit und einen bestimmten Zeitkolorit und so weiter hat. Das ist das, was uns die Manie von Schriftentwerfern heute schenkt oder zumindest billig verkauft, dass wir diese Wahlmöglichkeiten haben.
SM
Für mich war es sehr spannend mehrere Schränke mit Holzbuchstaben zu finden, die auch keiner benutzt. Die habe ich dann auch manuell unterfüttert und einen Abdruck gemacht, um zu schauen welche Buchstaben es gibt. Dafür gibt es auch ein Messgerät unter das man den Buchstaben vorsichtig schiebt.
FF
Sie meinen die Schattierung, wobei man das ja eigentlich Kolumne für Kolumne machen muss. Sie müssen erstmal Setzen und dann machen Sie den Abzug. Danach mussten Sie damals auf den Abzügen, wie eine Art Höhenlinien-Karte einzeichnen, um auch zwischen dem Satzschiff, in dem Druck und dem Tiegel, in der Druckerei, in der Druckmaschine und diesen kleinen Abweichungen nochmal einen Ausgleich zu erzeugen. Wenn man richtig perfekte Kolumnen in einer vollständigen Schwärzung hat, die auch nicht zu tief eingeprägt sind, so wie ich es hier in einigen typografischen Werken habe, ist das natürlich eine begeisternde Freude. Gerade wenn man weiß, wie die Entstehungsbedingungen waren.
SM
Ja, ich finde es immer sehr schön, vor allem auch dieses haptische Erlebnis beim Lesen zu haben.
FF
Wobei es nicht das Ziel der jeweiligen Zeit war. Es war ja durchaus kein Ideal, dass die Buchstaben so stark ins Papier reinprägen und fast schon Löcher reinreißen. Sondern das Ziel war eine fast unsichtbare, also nicht deutliche Schattierung – das ist das Fachwort für die Rückseite. Hier und in den anderen Etagen dieses Hauses finden Sie schöne Beispiele.
SM
Vielen Dank, Herr Forssman für dieses Interview.
FF
Das Vergnügen war ganz meinerseits.